SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

28JUN2010
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Wie buchstabiere ich mein Leben? Wenn ich auf den Anfang schaue erkenne ich ein Alphabet des Lebens, das mir vorgegeben ist. Buchstaben des Lebens: die Form meiner Nase und die Farbe meiner Augen, meine Zehennägel und das Muttermal - alles genau festgelegt. Wahrscheinlich ist es auch keine reine Erziehungssache, ob ich ein Draufgänger bin oder ein schüchternes Menschenpflänzchen. Buchstaben des Lebens. Die Familie fügt neue hinzu. Die Erfahrung, geliebt zu werden und umsorgt oder, schmerzlich, die Entbehrung dieser Erfahrung.
Aus Buchstaben formen sich Worte. Ich lerne, mit den vorgegebenen Buchstaben umzugehen, füge selbständig neue dazu. Es bilden sich Sätze, und von Seite zu Seite entsteht ein Buch. Das Buch des Lebens. Ich schreibe auf seinen Seiten, andere Menschen tragen sich ein - Ich glaube: auch Gott. Ein außerordentliches Buch. Es ist kein Buch, das ich im Griff habe. Weil: dieses Alphabet des Lebens, das bin ich auch selbst! Manchmal kann ich es nur stotternd buchstabieren, manchmal verschwimmen mir seine Zeilen vor den Augen - ich muss wohl geweint haben. Auf anderen Seiten leuchten die Buchstaben, so wie mein Lächeln strahlen kann. Mein Leben - ein lebendiges Buch. Lebendig, weil es sich austauscht mit anderen, von ihnen lernt, sich ihre Sprache zu eigen macht oder auch sich abgrenzt von ihnen.
In der Bibel gibt es im Buch der Sprüche das wunderbare Bild von den Tafeln des Herzens, auf die der Mensch die Gebote Gottes schreiben soll.
Buchstaben des Lebens: Manche sind von Gott geschrieben, auf die Tafeln des Herzens. Wahrscheinlich berühren uns die Lebensgeschichten anderer Menschen genau dann wenn wir spüren, dass das bei ihnen in besonderer Art und Weise gelungen ist. Manche Menschen sagen: Das sind Heilige. Ich finde, die Bibel ist voller Geschichten von Menschen die davon erzählen, wie sie ihr Leben mit Gott buchstabiert haben. Die Bibel ist deshalb für mich ein heiliges, ein außerordentliches Buch. In ihr finde ich Worte die mir helfen, mein Leben zu buchstabieren.
Manchmal verwandelt sich dadurch das holprige Lesen im Buch meines Lebens, mein Stottern, wenn ich nicht weiß, wie meine Geschichte wohl weitergehen wird. Dann stelle ich mir vor, dass Gott selbst auf den Seiten meines Lebens mit schreibt. Mag sein, ich weiß nicht, was ich auf der nächsten Seite meines Lebensbuches lesen werde. Mag sein, ich weiß nicht, warum mancher Satz geschrieben werden musste.
Doch im Rückblick scheint es mir, als ob gerade an den Tagen, an denen ich gerungen habe um Worte, gesucht nach den Buchstaben meines Lebens, mir Gott besonders nah war. Obgleich er so fern schien. Unlesbar. Im Rückblick scheint es mir: Ich kann die Schrift meines Lebens lesen, seinen Sinn verstehen.

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