Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Schon als Kind ist er am liebsten auf der Grenze gesessen. Auf der alten Steinmauer rund um den Garten seines Elternhauses. Da oben hat er sich den Wind um die Nase wehen lassen und hat die herrliche Aussicht genossen. Rittlings ist er da oben gesessen, ein Bein drinnen, eins draußen.
Das war sein Platz und sein Lebensgefühl. Dieses Gefühl, dazuzugehören und auch nicht, ein Bein drinnen, eins draußen, das hat er schon früh gehabt. „Ihr habt mich wohl auf der Entbindungsstation vertauscht!" hat er zu seinen Eltern gesagt. Als er seinen Freunden verriet, dass er mal Priester werden wollte, meinten die: „He, du bist doch sonst ganz normal!" Vom Schrecken seiner Eltern ganz zu schweigen.
Dieses Gefühl, dazuzugehören und auch nicht. Sogar in der eigenen Familie. Kennen Sie das? Ich habe es schon früh gehabt und dachte immer, ich hätte ein Problem. Man müsste doch in allem eins sein, mit den Eltern und später mit dem Mann, mit den Kindern.
In der Bibel habe viele Leute entdeckt, denen es ähnlich gegangen ist. Allen voran Jesus. Der ist doch schon als 12 jähriger seinen Eltern ausgebüchst. Drei Tage haben die eine irre Angst um ihn und finden ihn endlich im Tempel wieder. Wie kannst du uns das nur antun, sagen sie zu ihm. Und der antwortet ihnen ganz gelassen: „Ich muss im Haus meines Vaters im Himmel sein!"
Später, viel später wird den Eltern klar: Sie sind nicht sein ganzes Zuhause. Seine Sehnsucht ist viel größer als das, was sie ihm geben können.
Ich bin überzeugt: So sehr wir einander auch lieben. Wir können füreinander nie alles sein. Und das spüren manche deutlicher als andere: diesen Rest, der da bleibt, diese Sehnsucht, die keiner stillen kann, diese Unruhe, die einem niemand nehmen kann. Und das ist gut so. Weil wir Menschen nun mal so sind. Weil wir nicht nur hier bei unseren Lieben unser Zuhause haben, sondern auch bei unserem Vater im Himmel. Und erst bei ihm wird unsere Sehnsucht gestillt sein.
Ach ja, mein Freund, der als Kind oft auf „seiner" Mauer saß, ein Bein innen, ein Bein außen. Er ist tatsächlich ein Priester geworden. Ich habe lange und gern mit ihm gearbeitet. Eine wunderbare Ökumene war das. Wenn es mal drunter und drüber ging hat er immer den Überblick behalten. Und ein begnadeter Seelsorger war er auch.

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