SWR2 Wort zum Tag

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Eine hinreißende Frau, ein trauriger Anlass. Vor fast genau 700 Jahren, am 1. Juni 1310, wurde Marguerite Porete in Paris verbrannt. Die ganze Stadt war erschüttert. Vor allem zwei Punkte wollte die erfahrene Christin nicht widerrufen. Wer sich innigst mit Gott verbunden weiß und dem Geist Jesu folgt, braucht letztlich die kirchlichen Lehren und Sakramente nicht unbedingt. Das war der eine Schmerzpunkt, auf dem sie beharrte. Der andere: Wer sich radikal auf Gott verlässt, wächst auch über alle moralischen Tugenden und Vorschriften hinaus. Entscheidend war für diese fromme Frau: „Lass dich wirklich von Gott lieben und liebe ihn - und was du dann tun willst, das tu." Darüber steht kein Gebot und kein Dogma, kein Sakrament und keine ethische Vorschrift. Marguerite lebte im flämischen Nordfrankreich, sie war eine Begine, gehörte also in jene spirituelle Aufbruchsbewegung, in der damals gerade Frauen einen eigenen authentischen Weg der Christwerdung wagten, in der bestehenden Männerkirche und ihr gegenüber. Wäre das Werk dieser Frau nicht wiederentdeckt worden, bliebe ihr tragischer Tod nur eine traurige Episode. Aber ihr Buch ist hochaktuell. Sein Titel klingt fremd, hat es aber in sich: „Der Spiegel der einfachen vernichtigten Seelen". Da spricht eine mutige Frau aus ureigener Erfahrung. Sie hat Menschen im Blick, die anständig leben und Christen sind, so gut es eben geht. Sie halten die Gebote, sie beten, sie gehen zur Kirche - aber sie sind mit ihrem Ist-Zustand nicht zufrieden. Tief drinnen spüren sie: wer nicht ganz bei Gott ist und in Kommunion mit ihm, ist auch nicht wirklich bei sich und nicht ganz in der Welt. Genau darum aber geht es in diesem Dokument eines spirituellen Abenteuers. Ziel ist die heilige Kommunion zwischen Gott und Mensch. Erst wo der Mensch sich ganz auf Gott verlässt und sein Ego verabschiedet, wird er wahrhaft er selbst. »Vernichtigung« nennt das Marguerite: Das eigene Ego loswerden und selbstvergessen da sein. Wir könnten ganz schlicht mit dem Vater-unser sagen: „Dein Wille geschehe, nicht meiner." Das ist die Logik der Liebe. Marguerite Porete war eine in Liebe verrückte Frau. „Fern-nah" nennt sie ihren geliebten Gott, alles andere steht da zurück. Alle Moral hat nur den Sinn, zu dieser unmittelbaren Selbst- und Gotteserfahrung zu verhelfen. Auch das kirchliche Tun in Lehre und Liturgie bleibt ihr wichtig, aber nie darf es Endzweck sein. Marguerite war ein Mensch, der sich in allem ganz auf Gott verlässt und dadurch er selbst wird.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8362
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