SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Die riesige weiße Marmorstatue des biblischen Urvaters Abraham sieht man schon von weitem, wenn man auf das Ordenshaus der Karmelitenpatres in Vazoor-Kottayam im südindischen Bundesstaat Kerala zufährt. Zu Füßen der Statue weiden Schafe, ebenfalls aus Marmor, friedlich miteinander. Die Ästhetik dieser Skulpturen wirkt auf westeuropäische Besucher eher etwas kitschig. Aber die Gestalt des Abraham und das friedvolle Miteinander, das er bewacht, steht für eine überzeugende Botschaft: die Versöhnung unter den Religionen.
Abraham gilt als der Vater der drei so genannten abrahamitischen Religionen: des Judentums, des Christentums und des Islam. Abraham verbindet, was vielfach zerrissen ist und sich bekämpft. In der religiösen Vielfalt Indiens muss man dabei auch an den Hinduismus, die Sikhs und andere denken. In der Bibel verheißt Gott dem Abraham: „Du sollst ein Segen sein." Segen - das bedeutet: Frieden, Versöhnung, Zukunftshoffnung. „Anugraha" - so heißt das in der altindischen Sprache Sanskrit.
„Anugraha": so heißt auch das Ordenshaus und Bildungszentrum der Karmeliten. Die Verheißung Gottes an Abraham ist hier Programm und Auftrag: Sei ein Segen, bringe Versöhnung und Frieden zu den Menschen, die auf ihren unterschiedlichen Wegen nach Gott suchen.
Der Leiter des Hauses, Pater Joseph Pathrapankal, sieht in der religiösen Erziehung die wichtigste Grundlage für eine humane Gesellschaft. Das bedeutet für ihn aber auch eine Erziehung im Respekt vor dem Glauben und den Überzeugungen anderer Religionen. P. Joseph ist ein international renommierter Bibelwissenschaftler. Es geht ihm nicht um oberflächliche Gleichmacherei. Er kennt die heiligen Schriften anderer Religionen und liest sie im Licht des Evangeliums. Wo immer Menschen nach Erlösung suchen - Jesus Christus ist für ihn die Antwort. Aber Jesus Christus sprengt für ihn auch die Grenzen religiöser Enge. Er ist der Erlöser der Welt - also nicht nur der Christen, sondern aller Menschen.
Wir dürfen unseren christlichen Glauben nicht in Beliebigkeit auflösen, sagt P. Joseph Pathrapankal. Aber das heißt nicht, den Glauben anderer abzulehnen. Nicht abgrenzen, sondern sich gegenseitig ergänzen - das macht die ganze Wahrheit der Religion aus. „Jeder wird verstehen", sagt er, „dass ich von meiner Mutter sage: Sie ist die beste Mutter der Welt. Das heißt aber nicht, dass nicht auch andere Menschen eine gute Mutter haben und sie als die beste Mutter bezeichnen." Letztlich entscheidend, so betont er, sei eine Religion des Herzens und nicht eine Religion des Verstandes, eine Sprache der Liebe und nicht eine Sprache der Lehre.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8346
weiterlesen...