SWR2 Wort zum Tag

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Die Eindrücke einer Indienreise zu Beginn dieses Jahres werden mich noch lange begleiten. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Fahrt auf das Dhuravi-Island, eine kleine Halbinsel im Arabischen Meer in der Nähe von Bombay. Sechs Dörfer liegen auf Dhuravi-Island. Die etwa 30.000 Bewohner sind in der Mehrzahl katholisch. Seit Generationen leben sie hier und verdienen als Fischer und Kleinbauern ihren Lebensunterhalt. Ihr Pech: die Landschaft dort ist zu idyllisch. Deshalb will ein benachbarter Vergnügungspark sich dort erweitern, um den gestressten Einwohnern der 15-Millionen-Stadt Bombay Abwechslung zu bieten. Die Regierung hat die Gegend daher zur Wirtschaftssonderzone erklärt. Das ermöglicht ihr, die Menschen zu enteignen und umzusiedeln. Aber wohin? In die Arbeitslosigkeit? In das Elend der Riesenslums von Bombay?
Unsere kleine Reisegruppe mit dem Rottenburger Bischof Gebhard Fürst wird in dem Dorf Gorai auf Dhuravi-Island von einer riesigen Menschenmenge empfangen. Das ganze Dorf ist auf den Beinen - die Männer festlich gekleidet, die Frauen in farbenprächtigen Saris und mit ihrem Hochzeitsschmuck, die Kinder in ihren Schuluniformen. Es ist für sie eine große Ehre, dass die Gäste vom anderen Ende der Welt sie besuchen und ihre Verbundenheit mit ihnen zeigen. Sie begleiten uns in einem langen Zug zum Strand. Dort ist eine offene Bühne aufgebaut. Jugendliche zeigen im Theaterspiel, was sie bewegt: dass aus reinem Gewinnstreben ihre Zukunft aufs Spiel gesetzt werden soll; dass sie rechtlos sind und behandelt werden wie Tiere. Aber auch: dass der unselige Streit zwischen Hindus, Christen und Muslimen die gemeinsamen Interessen der armen Bevölkerung schädigt und die Solidarität zerstört. Mehrere hundert Menschen schauen zu - ernst, gespannt. Es geht in dem Spiel um den bitteren Ernst ihres Lebens.
Die Bevölkerung auf Dhuravi-Island ist nicht allein in ihrem Kampf um Heimat und Existenz. Kardinal Oswald Gracias, der Erzbischof von Bombay, hat seine Pfarrer dort angewiesen, sie darin zu unterstützen. Dass die Kirche eine Kirche der Armen und für die Armen ist, ist für Kardinal Gracias eine unumstößliche Überzeugung. Die Menschen sollen in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden, sie sollen politisches Bewusstsein entwickeln, damit sie ihre Interessen mutig in die Hand nehmen können. Das Straßentheater ist eine wichtige Methode der politischen Bewusstseinsbildung.
Am Ende des Theaterspiels kommt eine junge Frau zu uns und berichtet voller Stolz, der Oberste Gerichtshof habe ihnen jüngst nach zehnjährigem Kampf Recht gegeben. Sie dürfen bleiben. Aber noch wichtiger: Sie haben zum ersten Mal erfahren, dass sie, die Unberührbaren, die Rechtlosen, Gehör und Gerechtigkeit finden. Und sie haben erfahren, dass ihre Kirche das biblische Wort ernst nimmt: „„Der Herr führt die Sache des Armen / er verhilft den Gebeugten zum Recht" (Ps. 140,14)

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