SWR2 Wort zum Tag

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„Eure Söhne und Eure Töchter werden Propheten sein. Die jungen Männer und Frauen werden Visionen und die Alten werden Träume haben". Für den früheren Kardinal von Mailand Carlo Martini ist das eine wichtige Bibelstelle. Sie steht beim Propheten Joel und inspiriert Martini, über Aufgaben der verschiedenen Generationen nachzudenken.
Martini ist 83 Jahre alt; seinen Lebensabend verbringt er in Jerusalem. Schon vor Jahren hat er seine Ämter an einen jüngeren Nachfolger abgegeben. Auch deshalb, weil er überzeugt ist, dass ihm das Alter eine neue Aufgabe stellt, die er so in früheren Jahren nicht wahrnehmen konnte. „Schön ist es", sagt er, „wie der Prophet Joel den Alten eine Aufgabe zuweist. Dass sie vor allem kritisch und prophetisch wie die Jungen sind, ist nicht zu erwarten. Dass sie die Lasten tragen, Pläne machen und umsetzen, wie die starke mittlere Generation, darf man von Senioren nicht erwarten. Sie haben es verdient, die Geschäfte und Führung anderen zu überlassen und sich selbst etwas neuem zuzuwenden, dem Träumen. ... Der Prophet Joel erinnert die Alten daran, dass sie Träume und nicht die Enttäuschungen ihres Lebens weitergeben sollen. ... Träume, die uns für die Überraschungen des Heiligen Geistes offen halten, die uns Mut machen und an den Frieden glauben lassen, wo Fronten verhärtet sind."
Die Träume, die Kardinal Martini heute hat, betreffen nicht in erster Linie die Kirche. Das bekennt er offen. Früher, sagt er, träumte ich einmal „von einer Kirche, die ihren Weg in Armut und Demut geht, in der das Misstrauen ausgerottet wird. Von einer Kirche, die den Leuten, die weiter denken, Raum gibt." „Heute schaue ich in die Zukunft. Wenn das Reich Gottes kommt, wie wird es ausschauen? Die Utopie dieses Reiches ist eine Einheit, die jedem seinen persönlichen Platz gibt, transparent, und von allen angenommen. Was persönlich ist, bleibt, doch wir sind eins in Gott. Diese Utopie ist wichtig. Nur wenn du eine Vision hast, erhebt dich der Geist über kleinliche Auseinandersetzungen".  
Die Alten, die träumen, können den Jungen Mut machen, verrückt scheinende Ideen nicht gleich beiseite zu schieben, Unmögliches für möglich zu halten. Die Weitsichtigkeit der Alten kann diejenigen, die heute in der Verantwortung stehen und Entscheidungen zu treffen haben, einladen, ihrerseits einmal wieder in die Weite zu blicken, über die unmittelbaren Pflichten und Zwänge hinaus, und sich daran zu erinnern, wofür sie eigentlich arbeiten. Auf diese Weise - davon ist der alte Kardinal überzeugt - wird das Gespräch zwischen den Generationen spannend und kostbar, ja befreiend.

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