SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Haiti hat nach dem Erdbeben viel Hilfe erfahren. So hat dort ein junger brasilianischer Arzt freiwillig in einer provisorischen Krankenstation gearbeitet. Seiner Mutter, einer Theologin, schreibt er von dort: „Auf den Wegen durch die Stadt überall Zerstörung und Verwesungsgeruch; Entsetzen, Traurigkeit und unendliche Enttäuschung. Aber inmitten von all dem kann es sein, dass Menschen, die Schlange stehen, um bei uns ärztliche Hilfe zu finden, zunächst fast unhörbar summend, dann immer deutlicher singend, und in kreolisch einen Liedvers anstimmen: Wir danken dir, Jesus Christus, für deine Liebe. Der Gesang, schreibt der Arzt, übersteigt bei weitem die begrenzten Fähigkeiten meines Verstehens. Das Summen und Singen meiner Patienten spricht von einer Hoffnung, die gerade den Armen nie zu fehlen scheint. Eine Frau z.B., die eine Tochter verloren hat, hat mir gesagt: „Weißt du Doktor, was mir in all dem Schrecklichen dennoch so etwas wie eine letzte Freude gibt, ist das Wissen, dass Gott an uns denkt".
Die brasilianische Theologin antwortet ihrem Sohn: „Tragödien und Leiden haben zu allen Zeiten die Existenz Gottes und die Bilder, die Menschen von ihm haben, in Frage gestellt. Wer ist Gott? Wer der Mensch? Was der Sinn des Lebens und der Geschichte? Diese Fragen können einen Menschen dazu führen, dass er nichts mehr hofft und glaubt. Dieselben Fragen können Menschen aber auch zu einer Vertiefung ihrer Gottesvorstellungen führen, und oft sind es gerade die Armen, die dazu am ehesten fähig sind. Sie lassen sich durch nichts davon abbringen, daran festzuhalten, dass es so etwas gibt wie eine liebende Gegenwart von jemandem, der einfach da ist, und der den Menschen nie im Stich lässt. Er gibt sich ihnen nicht zu verstehen, er ist einfach da. Im Laufe der Geschichte unserer Religion zeigen sich solche Antworten immer wieder: im Buch Hiob, in den Psalmen, beim Propheten Jesaia sind sie zu finden. Wir Christen denken an Jesus Christus. Nicht in der Gestalt einer Lehre wollte Gott erkennbar sein, sondern im Antlitz eines Menschen, in Zuwendung, Erbarmen, Zärtlichkeit und Mitgefühl."
 Das schreibt die brasilianische Theologin an ihren Sohn, der in Haiti so eindrückliche Erfahrungen gemacht hat. Er erlebt eine Umkehr der Verhältnisse: er ist gegangen, um zu helfen und begegnet nun Menschen, die alles verloren haben, und die doch ihm Kostbares geben. Sie helfen ihm, sich auf die Kraft seiner Gottesbeziehung zu besinnen, die ihm so gar nicht gegenwärtig war.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8139
weiterlesen...