Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Mein Gott!" sag ich, wenn's auf der Straße mal nicht weiter geht oder wenn die Bahn wieder mal Verspätung hat. „Mein Gott!", wenn sich mal wieder jemand künstlich aufregt und aus einer Mücke einen Elefanten macht.
Und dann sag ich auch „Gott sei Dank!" wenn dann doch der Verkehr rollt und der Bummelzug in den Bahnhof einbiegt. „Gott sei Dank!", wenn mal jemand fünfe gerade sein lässt und nicht alles so eng sieht.
„Mein Gott!" und „Gott sei Dank!" gehen mir leicht über die Lippen. Aber das sind mehr als nur Floskeln. Dass ich »Gott« sagen kann, dass ich »Gott« denken kann, weist auf mehr hin. Anselm von Canterbury, einer der größten Theologen des Mittelalters, war sich sicher: Wer in der Lage ist, Gott zu sagen oder zu denken, der liefert einen Beweis, dass es diesen Gott auch gibt. „Gottesbeweis" heißt das in der Philosophie- und Theologiegeschichte. Gott beweisen, mag man denken, wer lässt sich denn so was einfallen?
Anselm ist allerdings alles andere als ein Spinner. Er ist ein Theologe, der auf die Vernunft setzt. „Ich glaube, um zu erkennen" ist sein bekanntester Satz. Der Glaube ist dazu da, mehr zu sehen, zu erkennen, zu verstehen. Und der Gottesbeweis hilft, Gott zu verstehen. Der Gedankengang ist gar nicht so schwer: Anselm weist Gottes Existenz damit nach, dass der Mensch in der Lage ist, überhaupt Gott zu denken. Gott wird im Mittelalter definiert als ein Wesen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Und tatsächlich, das zeigt Anselm, lässt sich über Gott hinaus nichts Vollkommeneres denken.
Ein echter Beweis, das können wir heute sagen, ist das nicht. Viele Autoren sprechen deshalb auch vom »Gottesaufweis«. Allerdings kommen sie auch nicht daran vorbei, dass das Reden von Gott ein menschliches Reden ist. Und das heißt: Ein beschränktes Reden. Ein Reden, dass sich auf Erfahrungen bezieht, die wir machen. Wenn wir also Gott erfahren, von Gott sprechen oder auch nur »Gott sei Dank!« sagen, heißt das noch lange nicht, dass dieser Gott auch wirklich existiert.
Aber bis heute stellt uns Anselm, dessen Gedenktag heute die christlichen Kirchen feiern,  mit seinem Gottesbeweis eine Aufgabe: Uns mit diesem Gott auseinanderzusetzen, weil wir ihn denken können.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8109
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