Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Es ist mit Sicherheit das geheimnisvollste Tuch der Weltgeschichte: Das Grabtuch von Turin. Und bis Anfang Mai werden es fast zwei Millionen Menschen im Turiner Dom bestaunen. Selbst der Papst wird in Norditalien erwartet. Dabei gibt's ehrlich gesagt gar nicht so viel zu sehen. Ein über vier Meter langes Leinentuch, einen guten Meter breit. Darauf zeichnen sich schwach die Umrisse eines Mannes ab. Er liegt. Der Körper scheint verletzt. Dunkle Flecken werden von vielen als Blutspuren gedeutet. Andere behaupten, der Mann sei gekreuzigt worden.
Nicht wenige Menschen glauben deshalb: Das ist das Grabtuch Jesu. Das Tuch, in dem Jesus nach seiner Kreuzigung beerdigt wurde. Aber: Vieles spricht dagegen. Das Tuch taucht erst im Mittelalter auf, über tausend Jahre nach dem Tod Jesu. Und die Art, wie der Mensch auf dem Leintuch erscheint, zeigt keine realistische Abbildung. Denn wenn man einen Menschen in ein Tuch wickeln würde, dann würde etwa das Gesicht völlig anders abgebildet. Umfangreiche Tests ergaben außerdem, dass das Tuch aus dem 13. Jahrhundert stammt. Aber das ist - wie so vieles an dem Tuch - umstritten.
Ich finde die Diskussion um das Tuch spannend. Klar will ich gerne wissen, was es mit dem seltsamen Bild auf sich hat. Und zu wissen: So hat Jesus ausgesehen - das hat was. Aber für meinen Glauben ist es völlig unwichtig, ob nun Jesus in dem Tuch gelegen hat oder ob irgendein findiger mittelalterlicher Maler dafür verantwortlich ist. Jesus, das weiß ich, ist eine historische Gestalt. Er hat gelebt und ist hingerichtet worden. Und mehr kann mir das Tuch beim besten Willen auch nicht sagen. Aber es kann doch eins deutlich machen: Auf dem Tuch sehe ich einen geschundenen, gequälten Menschen. Einen Mensch im Leid. Und das Tuch selbst unterstreicht das noch einmal. Denn der Leinenlappen hat ja selbst vieles durchgemacht: Er wurde durch viele Länder geschleppt, hat Brand- und Löschwasserflecken davongetragen. Auch das Tuch selbst ist geschunden.
Mir macht das deutlich: der christliche Glaube an Jesus ist kein Schönwetterglaube. Hat nicht nur mit heiler Welt und Orgelmusik und feierlicher Prozession zu tun. Sondern eben auch mit Leid und Schmerz. Und wenn das Grabtuch von Turin an diesen zentralen Aspekt des Glaubens erinnert, dann ist schon viel erreicht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8108
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