SWR2 Wort zum Tag

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Meine Bekannte ist verrückt geworden. Kürzlich erst ist es passiert, wurde schnell immer schlimmer. Eine richtige Abwärtsspirale.
Begonnen hat alles, als sie in einer Phase von Stress und Ratlosigkeit steckte. Da hat sich etwas ver-rückt bei Ihr. Sie entfernte sich immer mehr von Ihren Arbeitskollegen, von allen Menschen. Sie begann zu glauben: Mich verfolgen bestimmte Leute - obwohl diese zu diesem Zeitpunkt ganz woanders waren. Sie begann andere zu verdächtigen - und stieß sie damit völlig vor den Kopf.
Kein Einzelfall. Hundertfach passiert so etwas jeden Tag, überall in unserer Nähe. Mein Freund ist Psychiater und hat mir erklärt, was da passiert und warum es gar nicht leicht ist, Menschen zu helfen, die seelisch erkranken. Etwas ver-rückt in ihrem Leben, wie wenn wir einen großen Schrank irgendwo hinrücken, wo er nicht hingehört und danach ständig daran stoßen.
Die Wissenschaft geht zum Beispiel bei Schizophrenie davon aus, dass Menschen eine Art Veranlagung für diese Krankheit in sich tragen können, die sie geerbt haben. Durch schwierige und unerwartete Lebensumstände wird dann die seelische Störung ausgelöst, die den Kranken und ihrer Umwelt das Leben so schwer macht.
Durch die Situation meiner Bekannten wurde mir bewusst. Es fällt mir viel schwerer, mit psychischer Krankheit umzugehen, als mit körperlichen Krankheiten. Ein Beinbruch, eine Blinddarmentzündung, sogar Krebs: Es ist klar, dass es dafür Ärzte gibt und ein Krankenhaus. Aber wenn sich jemand verfolgt fühlt, aus dem Rahmen fällt, sich nicht mehr normal verhält, dann ist das mit dem Krankenhaus gar nicht so selbstverständlich. Dem psychiatrischen Krankenhaus haftet immer noch der Ruf der „Irrenanstalt" an. Man spricht ungern darüber, wenn jemand dort „eingeliefert" wird und den Kranken selbst ist es peinlich.
Ich war sehr froh, dass meine Bekannte meinen dringenden Rat annahm und sich behandeln ließ. Und ich habe festgestellt, dass der medizinische Fortschritt in diesem Bereich ein Segen ist für die Menschen, wenn sie früh genug den Schritt machen und ärztliche Hilfe suchen.
Als Christ will ich dazu beitragen, das Stigma von psychischen Krankheiten zu entfernen. Nächstenliebe heißt Gemeinschaft zu pflegen mit den Gesunden wie mit den Kranken, mit den Verletzten am Körper und mit denen, in deren Seele sich etwas verrückt hat.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8091
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