SWR2 Wort zum Tag

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Mein Handy ist nach Hamburg gereist. Leider ohne mich. Ich saß im Zug, hab gelesen, total vertieft und dann guck ich aus dem Fenster und sehe den Bahnhof, sehe das Schild: Mainz. Hier musst du raus, denke ich nur, raffe schon meine Sachen zusammen und dann spring ich aus dem Zug. Puh, geschafft! Leider ohne mein Handy. Das hatte ich auf dem Nachbarsitz vergessen. Ich hab's noch im Bahnhof gemerkt, bin zum Service und von Pontius nach Pilatus, nichts zu machen. Was blieb, war die Hoffnung, dass der Zugbegleiter oder ein freundlicher Bahnfahrer mein Handy findet und abgibt.
Ein Leben ohne Handy, ja, das ist auch im 21. Jahrhundert möglich. Ich bin kein Vieltelefonierer. So schlimm war das also nicht. Es war das erste Mal, dass ich etwas im Zug vergessen habe. Und ich habe wieder einmal gemerkt, wie sehr ich doch auf andere Menschen angewiesen bin. Am Service waren alle furchtbar nett. Haben erst mal im Zug angerufen und mit dem Zugbegleiter gesprochen, dann meine Daten aufgenommen und versprochen, sich um das Handy zu kümmern. Schnell war klar, der Zug fährt nach Hamburg, also hab ich auch die Nummer vom Fundbüro dort gekriegt. Und so ging es eigentlich weiter. Bei meinem Telefonanbieter haben sie mich freundlich beraten, ob ich jetzt mein Handy sperren lassen soll oder nicht und wie das geht und so weiter. Ich muss zugeben: Bis auf den Aufwand, den ich doch betreiben musste, hat es fast sogar Spaß gemacht, das Telefon zu verlieren.
Der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson berichtet in seinem Buch »Palast der Erinnerungen« von seinen Reisen. Und er schreibt, dass er ziemlich viel rumgekommen ist und viele Menschen kennen gelernt hat. Von Nordschweden bis Südaustralien, von der chinesischen Provinz bis ins amerikanische Hinterland. Sein Fazit: Gute Menschen sind in der überwältigenden Mehrheit. Überall findet Gustafsson auf seinen Reisen Menschen, die ohne viel zu fragen alles unternehmen, damit es dem anderen gut geht. Gustafsson kommt überallhin als Gast und erlebt Gastfreundschaft zu genüge. Wildfremde Menschen unterstützen ihn, wo sie können.
Als ich mein Handy wiederkriegen wollte, habe ich verstanden, was Gustafsson meint: Überall bin ich auf hilfsbereite, freundliche Menschen getroffen. Niemand hatte etwas davon, mir zu helfen. Aber alle waren dazu ohne Umstände bereit.
Übrigens: Mein Handy hab ich wieder. Der Zugbegleiter hat's  auf meinem Sitzplatz entdeckt, eingesteckt und in Hamburg abgegeben. Ein paar Tage später landete es dann wohlbehalten mit der Post in meinem Briefkasten.

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