SWR2 Wort zum Tag

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Zu den Frauen der Bibel, die mir wichtig geworden sind, gehört Mirjam.
Für sie könnte die Frage von Ulla Hahn aus einem Gedicht zutreffen:„Seid ihr ganz sicher, dass ihr lebt..."?
(Ulla Hahn, „Endlich", in: dies., Spielende. Gedichte, Stuttgart 1983, S. 52)

Es ist die Vision von einem sinnerfüllten Leben. Wie sieht es aus?
Ich bedenke Vergangenes, blicke auf morgen und gerate doch immer wieder ins Grübeln, frage: Was ist für mich wesentlich? Wo bin ich heute lebendig, ganz da? Wo bin ich ich selbst?
Das ist auch die Frage Mirjams im Alten Testament, der hebräischen Bibel. Mirjam gehört neben Mose und Aaron zentral in die Auszugsgeschichte der Israeliten aus Ägypten. Viele Jahre hat sie mit ihrem Volk in Ägypten gelebt: unterdrückt, unfrei und in großer Abhängigkeit. Sie sieht die Not und das  Elend ihres Volkes, dieses Nichtleben.
Ich stelle mir vor: Mirjam begehrt auf, will nicht länger Knechtschaft und Unterdrückung erdulden, nicht länger dieses sinn-lose und leere Dasein leben. Ihre Vision von einem anderen Leben, dieses Lebendigseinwollen lässt sie mit ihrem Volk im Vertrauen auf Gott aufbrechen.     
Nach dem Durchzug der Israeliten durch das Meer und ihrer Bewahrung vor der Streitmacht des Pharao singt Mirjam ein
kurzes Lied von der Befreiung:
„Singt Jahwe! Denn hoch erhaben ist er, Ross und Reiter warf  er ins Meer."
(Ex 15,20) 
Sie fordert das Volk Israel auf, mitzusingen, Gott zu loben. Es ist ein Lob, das im Bild von Ross und Reiter den Untergang von Macht und Unterdrückung, Hass und Gewalt verdeutlicht. Dieser Hymnus, der Gott preist, ist wahrscheinlich einer der ältesten Texte im Alten Testament. Eine Frau singt dieses bekenntnishafte Lied von Befreiung und Bewahrung. Ihr Lob Gottes gilt der geschenkten Freiheit und der Hoffnung auf ein Leben, das für sie sinnvoll ist.  

Ihr Aufbegehren gegen ein  fremdbestimmtes Leben, ihr Wunsch nach Sinn, nach lebensverändernder Kraft ist zeitlos. Denn Mirjams Vision, ihr Glaube an ein authentisches Leben ist auch heute für uns wichtig:  Auszuziehen aus überholten Rollen, zerbrochenen Beziehungen, aus fremdbestimmten Arbeitsformen. Es meint: Neues zu wagen, die Suche nach dem eigenen Weg, um identisch mit sich zu sein. Mirjams Mut aufzubrechen ist ansteckend, wenn ich erkannt habe, dass ich im Heute nicht lebendig lebe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8043
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