SWR3 Gedanken

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In seinen Tagebüchern stellt der Schweizer Schriftsteller Max Frisch eine Menge kluger Fragen. Wie zum Beispiel diese: „Ist es Ihnen jemals gelungen, die eignen Kinder kennenzulernen, d.h. sie nicht als Söhne oder Töchter zu sehen?“
Susanne ist Mitte Vierzig. Eine erwachsene Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Nur für ihre Mutter ist sie noch immer das kleine Mädchen. Zieh dir etwas auf den Kopf, sonst erkältest du dich. Du bist zu dünn, du mußt mehr essen. Diese Ungeduld, so warst du schon immer.
Manchmal findet Susanne das ganz schön. Ist ja auch ganz schön, wenn es irgendwo auf der Welt noch einen Ort gibt, wo man Kind sein kann. Aber meistens ist Susanne genervt. Weil sie ja eben kein Kind mehr ist. Und weil sie von ihrer Mutter endlich ernstgenommen werden will.
Deswegen erzählt Susanne von ihrem Beruf. Von der Verantwortung, die sie trägt. Aber ihre Mutter hört gar nicht richtig zu. Was hast du für ein anstrengendes Leben, sagt die Mutter. Als hätte Susanne ein schönes Bild gemalt. Und Susanne begreift, dass ihre Mutter nichts begreift.
Die begreift schon. Die begreift, dass sie irgendetwas falsch macht. Dass Susanne etwas von ihr will, was sie nicht versteht. Sie will einfach nur Mutter sein. So wie früher. Auf dieselbe Art und Weise wichtig sein für ihre Tochter. Sie beschützen, sie behüten. Aber die will das nicht. Die weist das zurück. Und das tut weh.
Max Frisch fragt: „Ist es Ihnen jemals gelungen, die eignen Kinder kennenzulernen, das heißt sie nicht als Söhne oder Töchter zu sehen?“ Meine Antwort: Wenn Kinder groß werden, ändern sich die Rollen. Auf beiden Seiten. Und das funktioniert nur, wenn beide Seiten bereit dazu sind.
Mit jedem Tag, den meine Tochter älter wird, entdecke ich, dass sie eben wirklich ein ganz und gar eigener Mensch ist. Mit einem ganz und gar eigenen Recht auf Leben. Das meine Achtung verdient. Zumindest dann, wenn ich ihr nah bleiben will.

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