SWR3 Gedanken

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In seinen Tagebüchern stellt der Schweizer Schriftsteller Max Frisch eine Menge kluger Fragen. Zum Beispiel will er wissen: „Kennen Sie auch Versöhnungen, die keine Narben hinterlassen auf der einen oder auf der anderen oder auf beiden Seiten?“
Fred ist fremdgegangen. Eigentlich kann er es selbst nicht verstehen. Weil er seine Frau Simone von Herzen liebt. Und dennoch ist Fred fremdgegangen. Und Simone weiß Bescheid.
Man führt Gespräche. Man geht zu einer Therapie. Man stellt eine Menge Fragen und klärt eine Menge Dinge. Und stellt am Ende fest, dass die Beziehung viel zu wichtig ist, um sie wegen eines Seitensprunges aufs Spiel zu setzen. Und das Leben geht weiter. Wie vorher.
Eben nicht wie vorher. Weil beide nicht mehr dieselben sind wie vorher. Vertrauen wurde von Grund auf erschüttert. Dinge wurden ausgesprochen, die man vorher für sich behalten hat. Sätze wurden gesagt, die man nicht mehr zurücknehmen kann.
Zwischen Fred und Simone hat Versöhnung stattgefunden. Aber die Narben bleiben. Natürlich bleiben die Narben. Weil es ja auch Verletzungen gab. Und wenn Verletzungen heilen, bleiben Narben. Nicht nur am Körper, sondern auch an der Seele. Sie zeigen, dass da Wunden waren. Wunden, die verheilt sind. Und die dennoch immer empfindliche Stellen bleiben werden.
Fred und Simone achten ihre Narben. Sie erinnern daran, dass es Verletzungen gab. Aber sie erinnern auch an den langen und guten Weg der Versöhnung. Der für ihre Beziehung so wichtig war und ist.
Max Frisch fragt: „Kennen Sie auch Versöhnungen, die keine Narben hinterlassen auf der einen oder auf der anderen oder auf beiden Seiten?“ Meine Antwort: Nein, jede Versöhnung meines Lebens hat auch Narben hinterlassen. Aber darüber bin ich nicht traurig. Denn auch sie sind ein wichtiger Teil von mir.
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