SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

In seinen Tagebüchern stellt der Schweizer Schriftsteller Max Frisch eine Menge kluger Fragen. Wie zum Beispiel diese: „Wofür sind Sie dankbar?“
Irma Müller ist seit drei Jahren im Seniorenheim. Sie sieht nicht mehr gut, sie hört nicht mehr gut, sie läuft nicht mehr gut. Ich treffe sie beim Mittagessen und frage sie, wie es ihr geht. Ganz gut, sagt sie. Und an ihrem Tonfall hört man, dass nichts gut ist. Man muss halt dankbar sein, sagt sie. Und an ihrem Tonfall hört man, dass sie es gar nicht ist.
Man muss halt dankbar sein. Sagt unser Verstand. Weil alles relativ ist. Es geht mir doch noch immer relativ gut. Es gibt Menschen, die sind viel kränker als ich, die sind viel ärmer als ich, die sind viel mieser dran als ich. Und weil ich das weiß, bin ich dankbar. Im Kopf.
Im Herz bin ich es nicht. Weil dort nichts relativ ist. Dort bin ich absolut traurig darüber, dass ich mich nicht mehr selbst versorgen kann. Dort bin ich absolut voller Angst, was die Zukunft mir bringen wird. Dort bin ich absolut zornig, weil das Pech mich zu verfolgen scheint. Und dann bleibt die Dankbarkeit schon einmal auf der Strecke.
Dankbarkeit kann man nicht verordnen. Wenigstens nicht, wenn sie von Herzen kommen soll. Aber Dankbarkeit kann man üben. Indem man die Momente stark macht, in denen Leben gelingt. Und das tut es. In aller Traurigkeit, in aller Angst, in allem Zorn. In jedem Menschenleben gibt es Momente, die einfach nur gut sind. Aber sie ins Herz zu lassen, das ist die Kunst.
Irma Müller hat einen Sohn. Der kommt jeden Tag zu Besuch. Dann liest er ihr aus der Zeitung vor oder hält ihr einfach nur die Hand. Ja, sagt sie, dafür bin ich wirklich dankbar. Jetzt hört man an ihrem Tonfall, dass es stimmt. Dass sie wirklich von Herzen dankbar ist.
Max Frisch fragt: „Wofür sind Sie dankbar?“ Meine Antwort: Es gibt die guten Momente. Die richtig guten Momente. Für die ich dankbar sein kann. Wenn ich sie in mein Herz lasse.
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