SWR3 Gedanken

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Als Kind hatte ich in meinem Zimmer eine Tapete aus Kork. So was hässliches gibt's heute wahrscheinlich gar nicht mehr. Aber wenn ich nachts so da lag, konnte ich in ihrem Korkmuster wilde Gestalten erkennen: freundliche Monster, fiese Hexen, allerlei Tiere und Gesichter. Ich musste nur hingucken, schon waren sie da. Und das schönste war, niemand außer mir konnte sie sehen!

Manchen Menschen geht es genau so auf der Toilette: Sie starren vor sich hin, denken an nichts Böses und sehen auf einmal kuriose Muster auf den ansonsten unauffälligen Fliesen und Kacheln. Da ist plötzlich mehr - Form, Farben, Rechtecke und Kreise, Muster.

Mancher Maler hat dieses Phänomen zu seinem Thema erklärt. Jackson Pollock zum Beispiel malte Bilder, die aussehen wie Farbklekse, wie Wolken aus Farbe, aber wenn man genau hinsieht, ist es ganz eindeutig eine Horde Pferde oder tanzende Mädchen oder einfach ein Gefühl wie Zufriedenheit oder Lachen.

Erwachsenen fällt es oft schwer, solche Dinge wahrzunehmen. Kindern fällt es viel leichter, Gestalten oder Gefühle zu sehen, die anscheinend nicht da sind.

Viele verlieren diese Fähigkeit auf dem Weg zum Erwachsenwerden: diese kreative Vorstellungskraft, mit der man sich staunend in der Welt umschaut und sieht was - oberflächlich betrachtet - eigentlich gar nicht da ist.

Wer sich diese Vorstellungskraft bewahrt hat, hat es leichter, Gott zu sehen. Denn Gott ist auch da und zugleich nicht da. Wie ein unauffällig-auffälliges Muster, das unser Leben begleitet. Manchmal können wir es sehen, können Gott sehen. Vor allem dann, wenn wir nicht damit rechnen.

Alles was wir brauchen, ist diese Freiheit des Geistes, Gott wie ein Kind zu sehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=7910
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