SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Knapp fünf Jahre lang war ich fast täglich im Pflegeheim, um meine Mutter zu besuchen. Seit sie tot ist, muß ich, kann ich das nicht mehr. Viele der Menschen, die ich dort getroffen habe, sind mir noch immer vor Augen. Manche Eindrücke aus dieser Zeit lasten noch auf mir, für andere bin ich sehr dankbar. Da ist die zierliche Frau, die auf dem Gang oder im Café Hand in Hand mit ihrem Mann Operettenmelodien singt. Die andere, die jedem zuwinkt, der vorbeigeht, und wenn ich nah genug herankam, hat sie mich natürlich ungeniert festgehalten. An manchen Tagen hatte ich das Gefühl großer Einsamkeit, dass da jeder nur für sich und entwurzelt im Zimmer saß, im Bett lag oder ruhelos umherlief. An andern Tagen fühlte ich mich an meine Zeiten im Studentenheim erinnert, da war Gemeinschaft zu spüren, angefangen von dem Grüppchen, das immer am Eingang saß.
Natürlich spielte die Art, in der das Personal von der Hauswirtschaft bis zur Pflege mit den Bewohnern lebte, eine große Rolle. Aber mir scheint, dass Entscheidendes von den alten Menschen selbst kam, von ihrer Hilflosigkeit, ihrem Angewiesensein, ihrem langsamen Weggehen von den Lebenden. Und genauso auch von einer gewissen Heiterkeit und Weisheit, einer rührenden Sorge füreinander entsprechend den geringen Kräften. Deutlich vor Augen ist mir auch noch die Szene, in der 2 alte Frauen mit ihren Gehwagen sich Aug in Aug kämpferisch gegenüberstanden: jede wollte, dass die andere Platz macht.
Was soll diese Lebensphase „Alter“, die den Alten und denen um sie herum soviel abverlangt und gleichzeitig bei vielen von ihnen soviel Stärke freilegt?
Bei aller inneren Abwehr und Angst hatte die Begegnung mit den sehr alten Menschen für mich auch eine ähnliche Faszination wie die mit kleinen Kindern. Beide tragen etwas in sich vom Geheimnis jener anderen Welt, der Welt, aus der wir kommen und der Welt, in die wir unterwegs sind. Sie wissen oder ahnen mehr und anderes als die, die von diesen beiden Polen entfernter leben. „Ich werde bald gehen“, „ich möchte nach Hause“, in solchen Sätzen ist das Unvorstellbare Realität. Alte Menschen, die solche Sätze sagen oder sie in anderer Weise ausdrücken, oft ohne Worte, nur in ihrem langsamen sich entfernen, sie lassen auch für mich das Unvorstellbare realer werden, das Ende dieses Lebens und den möglichen Blick darüber hinaus.
„Jeder der geht, belehrt uns ein wenig über uns selber“, hat die Dichterin Hilde Domin geschrieben. „Nur einmal sterben sie für uns, nie wieder. Was wüssten wir je ohne sie?“

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