SWR2 Wort zum Tag

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26FEB2010
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Nackt

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Nackt sind wir vor Gott, so heißt es wörtlich in der Bibel. Das ist, erst einmal, keine angenehme Vorstellung. Sauna hin, FKK-Strand her, die meisten Menschen mögen es nicht, wenn sie nackt fremden Augen und deren Urteil ausgeliefert sind. Wenn andere genau sehen, was die Kleidung barmherzig verbirgt: Ein Fettpolster, eine Narbe, eine Warze.... Eine Scham, uralt wie die Vertreibung aus dem Paradies, als die erste Menschen ihre Nacktheit verbargen, denn sie hatten gelernt, zu unterscheiden. „Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“, hatte die Schlange versprochen. Nur wer unterscheiden kann, kann auch richten. Die Menschen, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten und gelernt hatten, zu unterscheiden, zwischen Gut und Böse, die konnten dann auch richten. Andere Menschen. Und ihr eigenes Herz...
Die Schlange hatte allerdings nur die halbe Wahrheit erzählt. Denn die Menschen hatten zwar gelernt, zu unterscheiden, messerscharf, verletzend, zerstörerisch, manchmal auch heilsam, versöhnlich, doch sie waren nicht wie Gott geworden. Und so blieb ihr Richten bei allem Mühen merkwürdig unscharf, immer vorläufig. Unsere Rechtssprechung bewahrt die Ahnung dieser Unschärfe: In dubio pro reo, das Eingeständnis des Zweifels. Im Zweifel für den Angeklagten, weil der Richter eben nicht Gott ist. Schrecklich daher ein Rechtssystem, das auch noch meint, vom Baum des Lebens gegessen zu haben und sich anmaßt, über Leben und Tod zu richten, Leben nimmt, das doch nur Gott schenken kann. Jedes Todesurteil ist daher eine Gotteslästerung.
Gott richtet anders als die Menschen. Rechenschaft müssen wir schon ablegen für unser Leben. Das glauben Christen. Und möglicherweise wird das schmerzhaft sein, weil gerade das, worauf ich so stolz bin, worauf ich mir so viel einbilde, nichts gilt vor ihm. Schmerzhaft, weil meine Eitelkeit entlarvt wird, meine aufgeblähte Wichtigtuerei. Und erstaunlich, weil das bewahrt werden könnte, was ich eigentlich gering achtete.
Vielleicht wäre all dies nicht auszuhalten, wenn ich nicht wüsste und daran glauben dürfte, dass er uns Menschen liebevoll richtet. Denn der Mensch schämt sich einzig vor einem liebenden Auge nicht seiner Nacktheit. So dass ich mich, vor ihm, offen zeigen darf, frei, vor aller menschlichen Unterscheidung, und gerade so - im Paradies. https://www.kirche-im-swr.de/?m=7790
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