SWR2 Wort zum Tag

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Bei den Salesianerinnen am Rande der Wadala-Slums von Bombay hängt ein Bild von Schwester Bertha Sperrfechter. Sie wurde 1906 in Obergriesheim bei Heilbronn geboren. 1926 trat sie in den Salesianerorden ein, 1929 kam sie als Missionarin nach Indien. Im Jahr 1991 ist sie – hoch geehrt – im Alter von 85 Jahren in Bombay gestorben. Schwestern, die sie noch gekannt haben, erzählen, man habe sie nur „Bertha-Darling“ genannt. Denn sie selbst habe zu allen einfach „Darling“ gesagt, „Liebling“. Zu den Schülerinnen der Schule, die sie geleitet hat; auch zu den Frauen aus den Elendsvierteln, die sie in ihren Rechten und in ihrer Würde gestärkt hat. „Darling“ waren für sie die Dalits, die Unberührbaren, der Abschaum der indischen Gesellschaft. Auch die Leprakranken, die heute noch zwischen dem Müll auf der Straße leben, Tag und Nacht, bettelnd, erbarmenswürdig in ihrem unbeschreiblichen Elend – auch sie hießen für Schwester Bertha einfach: „Darling“.
Schwester Bertha Sperrfechter ist seit 19 Jahren tot. Aber sie lebt in dem weiter, was die Ordensfrauen dort auch heute Tag für Tag tun. Die Schule, die schon Sr. Bertha viele Jahre lang geleitet hat, besuchen heute rund 2.500 Mädchen. Sie sind von zu Hause ausgerissen und lebten auf der Straße. Oder sie wurden schon auf der Straße geboren und haben nie etwas anderes gekannt als Unbehaustheit und Gefährdung – tägliche Not, Gewalt und sexuellen Missbrauch. Wenn sie nicht zur Schule kommen können, unterrichten die Schwestern sie in einer „fliegenden Schule“ in ihren Slum-Unterkünften. Sie bilden sie für Berufe aus. Einige Mädchen erzählen zum Beispiel, dass sie einen Kosmetikkurs besucht und dabei gelernt haben, selbst kosmetische Produkte herzustellen. Ihre Erzeugnisse stellen die Mädchen aus und verkaufen sie; den Erlös bringen sie auf ein Sparkonto. So lernen sie nicht nur, verantwortungsvoll mit Geld umzugehen, sondern können sich über die Jahre hinweg auch ein kleines Startkapital für den Beruf oder die spätere Familie aufbauen.
Die Schwestern unterstützen auch die erwachsenen Frauen der Slums. Sie vermitteln den Frauen Kleinkredite. Mit diesen Krediten können Frauen etwa Kleidungsstücke nähen und einen kleinen Handel betreiben. Sie bekommen Geld in die Hand, mit dem sie eigenverantwortlich wirtschaften können. Das erhöht ihr Ansehen. Und es stärkt sie in ihrem Selbstbewusstsein. Das ist unerhört wichtig, denn als Frauen in der Kaste der Unberührbaren sind sie sonst weniger als nichts.
Die Schwestern in den Wadala-Slums von Bombay sind auch an der Spitze von Demonstrationen zu finden, wenn es um die Rechte der Ärmsten geht. Wahrscheinlich sagen sie nicht mehr zu allen „Darling“ wie früher Schwester Bertha. Aber sie lassen die Menschen spüren, dass sie liebenswürdig sind. Viele erfahren dies zum ersten Mal.
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