Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP


Zum Herrgott sind es 192 Stufen. Das habe ich im Urlaub gelernt. Wir stiegen gerade in den bayrischen Alpen in den Fels gehauene Stufen hinauf. Es lag Schnee, man musste auf seine Schritte achten. Oben wartete laut Reiseführer eine prächtige Wallfahrtskirche. Doch plötzlich, auf halbem Weg, ist da in einer Felsspalte eine winzig kleine Kapelle. Geschützt vor Wind und Regen, Platz zum Stehen für ein, höchstens zwei Menschen. Überhaupt nichts Spektakuläres – ein Kruzifix, einige Kerzen, ein paar Tannenzweige als Schmuck. Gerade zündet eine alte Frau eine Kerze an. Sie sagt „Grüß Gott“, wie es sich in Bayern gehört, und setzt dann noch dazu: „Ich komme jeden Morgen zum Herrgott herauf und zünde eine Kerze an.“ Dann wünscht sie uns noch einen schönen Tag und geht langsam und vorsichtig nach unten.

Die Wallfahrtskirche war groß und prächtig anzuschauen. Aber auf dem Rückweg zog es mich zu der improvisierten Kleinst-Kapelle. Dort traf die alte Frau jeden Morgen ihren Herrgott. Sie musste nicht den ganzen Weg bis zur großen Kirche gehen. Durch die Kapelle war er ihr sozusagen von oben her den halben Berg entgegengekommen. Wie ein guter Gastgeber nicht im Wohnzimmer sitzen bleibt und darauf hofft, dass es die Gäste irgendwie bis zu ihm schaffen, sondern zur Tür kommt und den Besuch dort empfängt.

Ich war angerührt und zugleich verwirrt. Wäre es nicht bequemer für die alte Frau gewesen, wenn es am Fuß des Bergs eine kleine Kapelle gäbe? Dieser anstrengende Weg! Musste das wirklich sein? – Noch im gleichen Moment glaubte ich die Frau zu verstehen. Der Weg zu ihrer Kapelle hinauf und hinunter war ohne Zweifel anstrengend. Aber es bedeutet auch ein Stück Würde, wenn man einen Weg noch selbst gehen kann. Und wenn das Ziel stimmt, dann bekommt man die Kraft, die der Weg kostet, vielfach zurück.

Beim Weitergehen zählte ich die Stufen von der Kapelle bis ins Tal mit: es waren 192. Und ich dachte: nicht zu viel und nicht zu wenig.

Gott kommt dir den halben Weg entgegen. Er wartet auf dich.
Wenn es dir wichtig ist, gehst du von Zeit zu Zeit deine Hälfte.
Du bekommst viel mehr, als du vermutest.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=7624
weiterlesen...