SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Manchmal sind Worte fehl am Platz: Wie banal kann eine Liebeserklärung klingen, wenn sie in Worte gefasst wird – anstatt sie in Schweigen zu hüllen. Wie oberflächlich und un-angebracht die mühsam hervor gestammelten Beileidsworte am Grab, wenn schon ein schweigsamer Blick viel mehr Anteilnahme zeigen könnte.
Es gibt Situationen, in denen wir dem Schweigen den Vortritt vor den Worten lassen soll-ten.
Für den Schweizer Kulturphilosophen Max Picard hat das Schweigen einen eigenen Wert gegenüber dem Wort. Schweigen – so führt er in seinem Buch „Die Welt des Schweigens“ aus – ist nicht bloßer Verzicht auf Worte.
Schweigen ist eine Welt für sich. Das Schweigen geht unseren Worten voraus. Es ist der schöpferische Zustand, in dem Worte überhaupt erst gefunden werden. Wer redet, ohne sich seine Worte aus dem Schweigen geben zu lassen, zerstört den Sinn des Redens. Er macht Worte, wo im Grunde geschwiegen werden sollte.
Picard vergleicht das Schweigen mit einem tiefen See, aus dem heraus wir Worte wie Tropfen schöpfen. Schweigen ist die Quelle des Redens – sein Rohstoff sozusagen. Es ist wild, ursprünglich, ungezähmt wie die freie Natur. Zugleich aber auch voll schöpferischer Lebendigkeit. Und deswegen kann es eine Wohltat für uns Wortmenschen sein, durch das Schweigen zu wandern.
Der Mensch hat das Wort. Er ist der Sprache mächtig und dies zeichnet ihn vor anderen Lebewesen aus. Zu schnell aber vergessen wir, dass unsere Sprachkraft nicht im Worte-Machen liegt, sondern im Schweigen. Gott hat dem Menschen eben nicht nur die Worte, sondern auch das Schweigen geschenkt. Der Mensch ist nicht dazu bestimmt, immerfort nur reden zu müssen. Er hat das Wort, weil er es aus dem Schweigen zu schöpfen ver-mag. Darum kennzeichnet den Menschen das Schweigen mindestens ebenso wie das Wort.
Meine eigene Erfahrung gibt Picard Recht: Manche Begebenheiten dulden keine Worte. Zunächst jedenfalls nicht. Erlebnisse, die uns im tiefsten Inneren berühren. Situationen, die nicht Worte brauchen, sondern Schweigen. Bewusstes Schweigen, damit ich spüren kann, welche Empfindungen in mir wach sind. Wenn ich das Schweigen aushalte, werde ich Worte finden für das, was zu sagen ist. Ich gehe aus dem Schweigen mit neuen Wor-ten hervor.
In einem Alltag, der von Worten vollgestopft ist, muss ich solches Schweigen erst wieder lernen. Ich benötige so etwas wie eine Schule des Schweigens: Augenblicke der Ruhe, Inseln der Stille, wo geschwiegen wird, tun mir gut. Und dann entstehen im Schweigen neue Worte.
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