SWR2 Wort zum Tag

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„Wir sollten doch von ganzem Herzen dankbar sein, dass wir, so wie die Lage mir derzeit erscheint, schweigen dürfen zu diesen Dingen.“ So schreibt ein Stuttgarter Pfarrer im Dezember 1938 an die württembergische Kirchenleitung. „Diese Dinge“, das ist die Ausgrenzung und Verfolgung von Juden und Christen jüdischer Herkunft. Knapp einen Monat nach der Pogromnacht stellt der Theologe mit Nachdruck fest: „Soviel ich weiß, verlangt weder eine staatliche noch eine kirchliche Stelle von uns auf der Kanzel irgendeine direkte oder indirekte Stellungnahme zur Frage der Juden und Halbarier.“

Als mir der Brief des Stadtpfarrers im Archiv in die Hände fiel, hat mich diese Passage lange beschäftigt. Schweigen, weil niemand von einem verlangt zu reden? Für mich klingt das wie der Versuch, die lauter werdende Stimme des Gewissen mit der Erinnerung an fehlende Dienstanweisungen zu beruhigen.
Der Theologe betrachtete das Elend nämlich nicht aus der Ferne. Als Seelsorger war er mit der Verzweiflung der aus der Gesellschaft ausgestoßenen und entrechteten Menschen direkt konfrontiert. Er kannte ihre Verbitterung und Verstörung und schreibt auch davon. Denn auch in seiner eigenen Gemeinde im Stuttgarter Norden lebten Menschen, die von den Nazis als Juden verfolgt wurden. Dass sie evangelisch getauft waren, interessierte die Rasseideologen nicht.
Trotzdem klammerte sich ihr Pfarrer an sein Recht, schweigen zu dürfen. Er kritisierte zwar damit auch die Kollegen, die den staatlichen Maßnahmen ungefragt Beifall spendeten. Aber er sah sich nicht zur öffentlichen Kritik berufen. Und erst das Gerücht über eine bevorstehende Zwangsscheidung sogenannter Mischehen zwischen Menschen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft brachte ihn dazu, das Problem der Kirchenleitung darzulegen. Hier sei ja die Heiligkeit der Ehe gefährdet, schreibt er.

Ich weiß nicht, was aus den Menschen jüdischer Herkunft aus der Gemeinde im Stuttgarter Norden geworden ist. Ob sie ermordet wurden oder wie sie überlebt haben. Aber heute, am Gedenktag des Holocaust, möchte ich an sie erinnern. Und an ihren Pfarrer, der glaubte, schweigen zu dürfen. Aus Überzeugung? Aus Angst?
Aus dem Gefühl heraus, doch nichts ausrichten zu können?

Das kann ich nicht beurteilen. Aber ich frage mich: Was passiert vor meinen Augen und ich schweige dazu? Und warum glaube ich, dass ich schweigen darf?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=7597
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