SWR2 Wort zum Tag

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Zuerst habe ich mich gewundert über die unförmigen grauen Gestänge an den Einkaufswagen im Drogeriemarkt. Erst auf den zweiten Blick habe ich bemerkt, dass daran Leselupen angebracht sind. Und zwar so, dass man diese Lesehilfen ohne weitere Handgriffe im Stehen benutzen kann. Eine einfache, aber wirkungsvolle Hilfe für alle, deren Augen bei kleingedruckten Produktaufschriften versagen.

Seitdem freue ich mich jedes Mal, wenn ich zu so einem Einkaufswagen greife. Nicht, dass ich die Lupe selber brauchen würde. Aber ich finde, es sind genau solche kleinen Veränderungen, die dazu beitragen, dass sich alle Menschen möglichst problemlos im Alltag zurechtfinden und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Für mich ist das einen Frage der Würde und des Respekts vor anderen.

Und ich glaube, da könnten wir noch mehr Phantasie aufbringen. Eine kleine Holztreppe reicht, und schon können auch kleine Kinder die Schaukästen im Museum bewundern. Eine schallschluckende Deckenverkleidung hilft, dass sich auch Menschen mit Hörgeräten in der Kantine gut unterhalten können. Barrierefreiheit bedeutet mehr als abgesenkte Bürgersteige.

Allerdings: solche Ideen, die das Leben erleichtern, die entstehen nur, wenn es uns allen wirklich ein Anliegen ist, dass keiner ausgegrenzt wird. Das ist nämlich nicht nur eine Aufgabe für Ämter und Bauplaner. Was braucht zum Beispiel der erkrankte Kollege am Arbeitsplatz, damit er wieder in den Beruf einsteigen kann? Wollen wir, dass auch gehbehinderte Menschen den Gottesdienst in unserer Kirche besuchen – und wenn ja, wir können wir es ihnen so leicht wie möglich machen?

Für mich ist darin Jesus ein Vorbild. Für ihn war schon zu seiner Zeit klar: Kinder kommen nach vorne, egal was die Konvention sagt. Frauen sind wichtige Gesprächspartner, auch wenn die gelehrte Fachwelt das anders sieht. Und Menschen mit Behinderungen brauchen sich nicht verstecken. Gott sei Dank sind wir da heute im Vergleich zur Zeit Jesu ein gutes Stück weiter gekommen. Trotzdem: seine Haltung bleibt für mich vorbildlich.

Dieses Vorbild macht mir selber Mut, selbstbewusst zu bleiben, wenn meine Umwelt nicht auf meine Bedürfnisse eingestellt ist. Und im Zweifelsfall eben darauf zu bestehen, dass unser Kinderwagen noch in den vollen Bus gequetscht wird, auch wenn die anderen Fahrgäste ungeduldig werden.

Und das Vorbild Jesu macht mich hoffentlich auch immer aufmerksamer für die Bedürfnisse anderer. Deshalb freue ich mich über die Lupen im Drogeriemarkt. Und wünsche mir, dass immer mehr solcher guter Ideen umgesetzt werden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=7595
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