SWR2 Wort zum Tag

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„Deutsche Unsitten“. Das Buch habe ich zu Weihnachten geschenkt bekommen. Und von den Unsitten gibt’s, glaubt man dem Autor, ganz schön viele. Über 160 finden sich in dem Buch. In kurzen, mehr oder minder witzigen kleinen Texte beschrieben. Ein paar Unsitten gefällig? Hochdruckreinigen, Halloween, das Einkaufen bei Aldi, Laubgebläse, Dieter Bohlen und vieles mehr. All das sollen Unsitten, sollen deutsche Unsitten sein.
Mir fallen direkt auch ein paar ein. Panikmache wegen Schweinegrippe oder einem Sturmtief, das halte ich für eine Unsitte. Oder der Schlankheitswahn, von dem wir befallen sind. Und genauso, dass viele Leute selbst die Brötchen beim Bäcker mit dem Auto holen müssen, obwohl sie genauso gut die paar Meter zu Fuß gehen könnten.
Also, Unsitten fallen mir auch einige ein. Aber trotzdem hat mich das Buch über die Unsitten der Deutschen dann doch schnell genervt. Weil im Grunde genommen alles zur Unsitte erklärt wird. Da ist es selbst eine Unsitte, dass Kinder Fahrradhelme tragen. Ich halte das für lebensnotwendig. Und Brezeln sollen auch eine Unsitte. Warum? Ich hab beim Lesen gedacht: Die größte Unsitte ist es, alles zu kritisieren, alles mit vermeintlich witzigen Bemerkungen schlecht zu machen. In Maßen finde ich das gut. Ich mag Ironie und den bissigen Ton. Aber auf Dauer erzeugt er nur Langeweile. Und zudem: Wenn alles eine Unsitte ist, dann kann man ja gar nichts mehr machen. Die Kritik an bestimmten Verhaltensweisen wird völlig beliebig. Und das heißt: wahllos und damit zahnlos. Denn wenn jemand alles kritisiert, dann nehme ich ihm auch die Kritik nicht ab, die vielleicht mal wirklich treffend ist.
Die Kritik an den Unsitten der Zeit ist übrigens genauso alt, wie die Menschheit selbst. Immer gibt’s wen, der sich über die anderen aufregt, die falsch handeln, sich schlecht benehmen. Bleibt die Frage: Wie finde ich dann noch heraus, was wirklich eine Unsitte ist - und was gut und richtig?
Ich stoße da immer wieder auf einen Spruch aus der Bibel. Der lautet: „Prüft alles, und behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,21) Kein spektakulärer Satz. Ziemlich nüchtern kommt er daher. Wie der Glaube ja häufig genug ganz nüchtern und realistisch daherkommt. „Alles prüfen“, das heißt: Ohne Vorurteile an alles herangehen. Sich ein Urteil erst bilden. Nicht alles schlecht machen, aber auch nicht alles schönreden. „Das Gute behalten“, das heißt: mit ruhigen Kopf auswählen. Gutes und Schlechtes voneinander unterscheiden. Auf Unsitten nicht reinfallen, aber auch nicht alles zur Unsitte erklären.
Thomas Weißer, Budenheim bei Mainz, Katholische Kirche
https://www.kirche-im-swr.de/?m=7524
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