SWR2 Wort zum Tag

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Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das sagt sich so leicht daher. Dabei ist dieser Gedanke ungeheuer kühn und alles andere als selbstverständlich. Ab und zu mache ich ein Experiment, wenn ich im Omnibus sitze. Ich schaue mir die Fahrgäste an. Die alte Dame, die ihre Krokotasche mit beiden Händen fest auf dem Schoß hält. Den Vierzigjährigen mit den Tränensäcken unter den Augen. Neben dem will niemand sitzen, weil er so muffig riecht.
Und den Typ, der immer vor sich hinmurmelt und in sich hineinlacht, ohne dass man
feststellen kann, aus welchem Grund. Und dann denke ich: Alle, ausnahmslos alle, die hier sitzen, die Jungen und Alten, die nach Parfüm Duftenden und streng Riechenden, die Bücher Lesenden und die laut mit sich selbst Redenden, sind Ebenbilder Gottes. Alle haben eine Menschenwürde, die ihnen niemand rauben und niemand absprechen kann. Auch die, die
nach gängigen Kriterien nicht normal sind. Geistig krank. Verrückt.
Wahnsinnig wie Daniel Paul Schreber, von dem ich vor kurzem gelesen habe. 1904 veröffentlichte er eine Bekenntnisschrift mit dem Titel: „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken.“ Schon zu Lebzeiten war Daniel Paul Schreber für Psychiater ein
interessanter Fall. Denn Schreber war ein beruflich erfolgreicher Jurist, Landgerichtsdirektor und Senatspräsident. Doch seit seinem 42. Lebensjahr erlebte er immer wieder Phasen, in denen er stundenlang starr und unbeweglich dasaß und sich für tot und angefault hielt. Er glaubte, heilige Musik zu hören, mit Gott und Teufeln zu verkehren. Im Zentrum seines Wahnsystems aber stand der Gedanke, er sei eine Art Jesus, dazu berufen, die ganze Welt
zu erlösen. Ein paar Mal versuchte er, sich das Leben zu nehmen.
Schreber war ein gebildeter Mensch. Er verblüffte seine Ärzte durch seinen klaren Geist, sein gutes Gedächtnis, sein reges Interesse an Politik, und, ja wirklich, seine Normalität. Auf der anderen Seite glaubte sich der Kranke in seinen Wahnzuständen „unter einer tonnenschweren Eisenplatte begraben“. Er stellte sich vor den Spiegel, band sich rosafarbene Schleifchen ins Haar und hielt sich für eine Frau.
Daniel Paul Schreber hatte den Mut, sich schon zu Lebzeiten zu seiner absonderlichen Geistesverfassung zu bekennen und zeigte damit: Beide Personen in ihm gehören zusammen: der Senatspräsident und der Insasse einer Nervenheilanstalt. Der erfolgreiche Jurist und der obskure Welterlöser.
Die Würde des Menschen besteht unabhängig von seinen Lebensumständen und seinem Verhalten. Denn der Mensch bleibt Gottes Ebenbild, auch dann noch, wenn er sich rosa Schleifchen ins Haar bindet.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=7521
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