SWR2 Wort zum Tag

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„Für viele Europäer hat die Religion etwas Bedrohliches.“ Meint die amerikanische Professorin und Kulturkritikerin Marcia Pally. Bei der Lektüre eines Zeitungsartikels bin ich über diesen Satz gestolpert. Marcia Pally schreibt da: „Amerikaner schränken die Regierung ein, während die Europäer die Religion an die Kette legen, damit sie ihr finstere Macht nicht über den Staat ausübt.“
Haben viele Europäer tatsächlich Angst vor Religion?
Als pauschales Urteil ist das sicher stark zugespitzt. Trotzdem finde ich, es gibt Indizien, die in Richtung „Religionsphobie“ deuten:
ZB. beklagen gerade Muslime, die versuchen, ihren Glauben in unsere offene Gesellschaft hinein zu leben. Gerade diese erleben, dass sie sich immer wieder nur rechtfertigen sollen für Selbstmordattentate, Verschleierungszwang usw. Dagegen interessiert man sich kaum dafür, wie und was sie wirklich glauben und wie sie versuchen, als Muslime in Deutschland zu leben. Ist das nicht ein Indiz dafür, dass viele von uns ihr fest gefügtes, negatives Bild der Religion behalten wollen. Aus Angst?
Und Angst vor der Religion meine ich auch zu spüren gegenüber dem Christentum. Es ist für mich zB. ein Indiz von Religionsangst, wenn in kommunalen Kindergärten die Weihnachtszeit begangen wird, aber die christlichen Wurzeln von Weihnachten nicht erklärt werden. Oder die Furcht vor der Erwähnung Gottes in den europäischen Grundsatzverträgen. Oder der Widerstand gegen Religionsunterricht in manchen Bundesländern.
Gerade auch Menschen, die aufgeklärt und gebildet sind, scheinen Angst zu haben vor dem Christentum. Es scheint vielen immer noch vor allem eins: „gefährlich“. „Kreuzzüge, Hexenverfolgung, Konfessionskriege. Wissenschafts- und Frauenfeindlichkeit.“ Die Irrwege und Verbrechen der Kirchengeschichte werden in Gesprächen aufgerufen. Ich kenne dieses Erbe sehr wohl und es beschämt wahrscheinlich jeden Christen.
Aber es ist für mich ein Indiz von „Religionsangst“, wenn Menschen nicht sehen wollen, dass Christen dieses Erbe selbstkritisch angenommen und daraus gelernt haben. Wenn Menschen das nicht sehen wollen, sondern stattdessen auch „die Religion“, wie Christen und Kirchen sie heute leben, immer neu als latent gefährlich verdächtigen und sie am liebsten zur reinen Privatsache erklären möchten.
Aufgeklärte Religion ist nicht bedrohlich für eine offene Gesellschaft. Im Gegenteil. Sie ermutigt und motiviert Menschen, selbst Verantwortung zu übernehmen in ihr und für das Gemeinwesen. Viele Menschen, die sich für die Zivilgesellschaft engagieren, tun dies gerade aus christlichen Motiven. Aufgeklärte Religion muss nicht gebändigt werden, sondern freigelassen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=7438
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