SWR2 Wort zum Tag

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Drei Wünsche für das Neue Jahr
Durchsichtige Zäune
Hartnäckige Fragen (im Nacken ein wenig Flaum)
Brücken, die bei Vormarsch brechen
Von dem Schriftsteller Reiner Kunze stammt dieses Gedicht zu Neujahr.
Der 3. Wunsch darin hat es mir besonders angetan: „Brücken, die bei Vormarsch brechen”. Das ist auf den 1. Blick ein Widerspruch: Brücken sollen nicht brechen, sondern standhalten. Denn Brücken stellen Verbindung her von Ufer zu Ufer, von Mensch zu Mensch.
Ich lasse mir zum Neuen Jahr gerne Brücken wünsche, Brücken die zu andern Menschen führen und zu neuen Ufern, die es möglich machen, dass ich auf andere zugehe und andere auf mich, und dass ich Neuland betreten kann.
Manchmal trennen uns ja Abgründe voneinander, selbst wenn wir räumlich nahe zusammen sind. Allein schaffe ich dann vielleicht den Brückenschlag hinüber, doch wenn auf der andern Seite nicht mindestens Fundamente errichtet werden, geht der kühne Brückenbogen ins Leere.
Da will einer keine Brücke vor seiner Tür. Vielleicht ist er sich selbst genug, ist nicht neugierig auf Fremdes. Vielleicht ist er auch nur vorsichtig oder hat sogar Angst. Schließlich werden nicht nur im Krieg Brücken mißbraucht, um das andere Ufer einzunehmen, zu besetzen, gar zu vernichten.
Reiner Kunzes Neujahrswunsch trifft mitten ins Leben: Er wünscht uns Brücken, die bei Vormarsch brechen. Vormarsch meint hier sicher stampfende Stiefel, die in feindlicher Absicht die Brücke betreten. Die Brücken sollen von selbst zusammenbrechen, wenn Waffen und Panzer darüber rollen.
Waffen und Panzer gibt es nicht nur aus Metall und nicht nur im Krieg. Es gibt sie auch zwischen Menschen in Worten, in Gesten, im Schweigen, in Blicken. Und die stampfen und schleichen über die Brücke bis vor die Tür des andern, wenn nicht, ja, wenn nicht die Brücke ihren Dienst versagt, da sie sich so in ihr Gegenteil verkehrt sieht.
An einer breiten, einladenden Brücke wohnen dürfen ohne Angst - das lasse ich mir gern wünschen. Doch ich kann nicht sicher sein, daß sich dieser Wunsch erfüllt. Ich kann nur mir selbst vornehmen: Mißbrauche nie eine Brücke! Betritt sie stets in ehrlicher Absicht! Doch ein Risiko bleibt - für mich und für die anderen.

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