SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Lange hatten die Beiden am Feuer gesessen: der alte Mann und sein Enkel. Sie hatten dem Knacken des Holzes zugehört und das Flackern der Flammen beobachtet.
Schließlich ergriff der alte Mann das Wort: „Manchmal habe ich mich gefühlt“, sagte er, „als ob zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpften. Einer der beiden war rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere aber liebevoll, sanft und mitfühlend.“
Der Junge hatte aufmerksam zugehört. „Und welcher der beiden“, fragte er schließlich, „hat den Kampf um dein Herz gewonnen?“ „Der, den ich gefüttert habe, der hat gewonnen“, sagte der Großvater.
Die kleine Geschichte gibt eine Antwort auf die Frage, über die immer wieder heiß gestritten wird: Ist der Mensch gut oder schlecht? Oder wird er erst dazu durch die Einflüsse von Erziehung und Umwelt?
Der Großvater entscheidet sich nicht für die eine und gegen die andere Seite. Ihm kommt es darauf an, dass es eine persönliche Verantwortung gibt für das, was aus einem Menschen wird. So wie jemand verantwortlich ist für das, was er an Nahrung zu sich nimmt, so trägt er auch Verantwortung dafür, womit er seine Seele füttert. Letztendlich entscheide ich darüber, welchen der beiden Wölfe ich füttere, welchen ich heranbilde.
Es geht in der Geschichte nicht zuletzt um die Rolle, die Bildung in unserem Leben spielt. Bei der Diskussion um dieses Thema wird oft vergessen, dass dieser Begriff seine Wurzeln in der mittelalterlichen Mystik hat – bei Meister Eckart. Der griff in seinen Überlegungen einen alten biblischen Gedanken wieder auf, wonach der Mensch nach dem Bilde Gottes geprägt ist. Diese Prägung, so der Mystiker, sei allerdings immer wieder verdunkelt durch alle möglichen Einbildungen, denen sich der Mensch hingibt.
Bildung besteht darum zunächst in dem Akt der Entbildung, in der Beseitigung falscher Einbildungen. Dann aber ermöglicht sie dem Menschen das Hineinwachsen in das gute Bild, das Gott in seiner Schöpfung vom Menschen entworfen hat.
Wie man dahin kommt, deutet der Großvater in der Geschichte mit den beiden Wölfen an. Liebe, Sanftmut und Mitgefühl bilden sich heraus, wenn die entspre-chenden Seelenanteile gefüttert werden. Oder, um es mit einem Wort des Apostel Paulus zu sagen, wenn ein Mensch so lebt, dass Christus in ihm wachsen und Ges-talt gewinnen kann.
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