SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

26FEB2007
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Alle Morgen weckt Gott mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören - gleich zwei Menschen haben mir in der letzten Zeit erzählt, wie wichtig ihnen dieses Wort aus dem Buch des Propheten Jesaja geworden ist. „Mir hat dieser Spruch sofort gefallen“, erzählt mir eine Konfirmandin. „Warum hat Dir dieser Spruch so gut gefallen?“, frage ich. „Ich möchte gerne verstehen, was Gott von mir will,“ meint das junge Mädchen und ich bin angerührt von ihrer Ernsthaftigkeit. Mit ihrer noch etwas kindlichen Schrift hat sie das Jesajawort auf einem karierten Zettel aufgeschrieben, es soll ihr Konfirmationsspruch werden. Ich stelle mir vor, wie sie im Gottesdienst plötzlich aufgemerkt, gespürt hat: dieses Wort ist für mich wichtig, ist mein Wort. Tatsächlich, Gott hat ihr Ohr geweckt! Der nächste, der mir von diesem Jesajawort berichtet, der tut es mit Tränen in den Augen. Ein Freund, Ende 40, drahtig und sportlich-durchtrainiert. Gerade hat er eine schwere Erkrankung überstanden. „Wenn du das durchgemacht hast, was ich erlebt habe, dann hörtst du das ganz anders: „Alle Morgen weckt er mir das Ohr“. Dass ich überhaupt wach werde, das ist so gar nicht selbstverständlich. Ich wusste, ich konnte jeden Tag sterben. Morgens wach zu werden, das war ein Geschenk. Du weckst mich, habe ich zu Gott gesagt.“ Und wieder stehen ihm die Tränen in den Augen.
„Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.“ Ein Bibelwort, das eine Konfirmandin faszinieren kann und einen erwachsenen Mann in der größten Krise seines bisherigen Lebens trägt, das muss eine große Kraft haben. In der Tat ist es ja ein ganz ungewöhnliches Bild: Gott selbst neigt sich einem Menschen zu, weckt ihm das Ohr, flüstert ihm den Weckruf zu. Ich finde, es ist auch ein zärtliches Bild. Gott thront nicht in abstrakter Gleichgültigkeit jenseits seiner Schöpfung, sondern wendet sich, ganz persönlich, seinen Menschenkindern zu. Weckt sie, schenkt ihnen den neuen Tag, einen neuen Tag Leben.
„Ich möchte verstehen, was Gott von mir will,“ sagt das junge Mädchen. Und öffnet damit ihr Ohr für den, der sich ihr zuwendet. Wie besonders, wie anders ein Tag beginnen kann, an dem man sich so für Gott öffnet, an dem man spürt, dass Gott selbst einem das Ohr weckt. Es ist ein Wunder, dass wir leben. „Es ist nicht selbstverständlich, wach zu werden,“ weiß mein Freund. Es ist ein Glück, ein Geschenk. Ich danke dem, der mir mein Ohr weckt, an diesem neuen Tag.
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