SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Was wäre die vorweihnachtliche Zeit ohne die vielen Lichter? An Fassaden, in Vorgärten, an ungezählten Fenstern stimmen uns schon seit Wochen Abertausende Glühbirnen und farbenfrohe Dioden auf Weihnachten ein. Es scheint, als wolle man die frühe Dunkelheit dieser Tage verdrängen und durch Kunstlicht ersetzen.
Aber die Dunkelheit lässt sich nicht künstlich verdrängen. Vielleicht ist der Advent sogar eine Zeit, um der Dunkelheit ihr Recht zuzugestehen. Novalis, ein Dichter der Romantik, hat einmal in seinen „Hymnen an die Nacht“ geschrieben: „Unselige Geschäftigkeit verzehrt den himmlischen Anflug der Nacht.“ Er hat die Glitzerwelt unserer modernen Konsumtempel noch nicht gekannt. Aber sicher war es schon damals – vor über 200 Jahren – eine Mahnung, sich nicht durch vordergründigen Schein blenden zu lassen, nicht den Blick in die Tiefe zu meiden. Die Nacht hat ihre eigene Sichtweise. Vieles, was wir bei Tag sehen oder tun, erscheint uns bei Nacht nicht mehr selbstverständlich. Manches, was bei hellem Licht klar und plausibel erscheint, wird fragwürdig, wenn wir es der Ruhe des Nachdenkens aussetzen. Für vieles, was uns am Tag erschöpft und wofür wir zu schwach sind, sammeln wir bei Nacht neue Kraft. Aber die Nacht ist auch der Ort der Angst. Und manchen, der im Schatten und in der Dunkelheit lebt, übersehen wir im Treiben des Tages.
Die Nacht und das Licht sind keine Gegensätze. Wer nur in der Nacht lebt, erkennt keinen Weg mehr. Und wer nur im Licht zu leben glaubt, wird leicht geblendet. Beide sehen nichts. Tag und Nacht bedingen einander. Und sehen lernen heißt, beides zulassen, den Tag und die Nacht. Es bedeutet, in der Nacht die Kraft der Hoffnung wahrzunehmen und den Keim der Verwandlung zu spüren. Es bedeutet, auch bei Tag die Schatten wahrzunehmen, das verdrängte Dunkel in mir selbst und auch den Menschen neben mir, der dem Licht nicht mehr vertraut. Es bedeutet, das Leben in seiner Größe und in seiner Bedrängnis ernst zu nehmen und anzunehmen.
Advent – wir erwarten das Licht der Weihnacht. Aber dieses Licht verdrängt und verleugnet nicht die Nacht. Es erleuchtet die Nacht von innen her. Ein Psalm nimmt das Geheimnis des Weihnachtsfestes vorweg (Ps 139, 11-12): „Würde ich sagen, ‚Finsternis soll mich bedecken, statt Licht soll Nacht mich umgeben’, auch die Finsternis wäre für dich, o Gott, nicht finster, die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie Licht.“ Die Nacht und das Licht versöhnen sich. Gott wird Mensch. Welch eine Hoffnung!
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