SWR2 Wort zum Tag

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Beten ist wünschen, nur intensiver.

Wer betet, breitet sein Leben aus: lobend oder klagend, Hoffnung träumend der eine, dunkel vor Kummer der andere, suchend und tastend nach eigenen Worten.
Dorothee Sölle, die Schriftstellerin und Theologin, an deren 80. Geburtstag ich in dieser Woche erinnern möchte, hat das einmal so formuliert: „Ich empfinde den Gedanken, dass jeder Mensch beten kann, als eine ungeheure Betonung seiner Kreativität. Das Christentum setzt voraus, dass alle Menschen Dichter sind, nämlich beten können… Wenn die Menschen mit der größten Wahrhaftigkeit, deren sie fähig sind, das zu sagen versuchen, was sie wirklich angeht, dann beten sie und sind zugleich Dichter.“ 1
Sieht man es so, kann Beten eine Weise sein, das Leben zu verstehen. Es hat mit unserem Denken und Empfinden zu tun. Aber woher nehme ich die Sprache, wenn mein Leben verschattet ist, wenn ich vor Trauer und Leid keine Worte finde? Befreiend ist: Ich muss nicht sprachlos werden. Es gibt „Ur-kunden“ des Glaubens, wie wir sie in der Bibel vor uns haben, z.B. in den Psalmen, im Vaterunser. Solche Gebete sind wie „Dächer“, die bergen. Sie können Quellen der Kraft und der Ermutigung sein.
Im Gebet nennen wir die Dinge beim Namen. Wir finden Sprache vor Gott für das, was wir beklagen, betrauern, was wir uns wünschen, was wir uns erhoffen. Dorothee Sölle tut das in Gedichten. Oft sind es Gebete. Sie zu lesen – dazu möchte ich ermutigen. Sie schenken dem Mutlosen Kraft, dem Traurigen ein Geländer zum Festhalten. Sie sprechen von Glück und Schmerz, von Trost und Befreiung, von Sehnsucht und Hoffnung. Sie sind Protest und Klage, reden auch von Tod und Vergänglichkeit. Ein Beispiel:

„Herr wir bringen vor dich alle unsere angst
die angst alt zu werden und die angst vor dem tod
die angst allein dazustehen und die verlassen zu werden
und die angst davor nicht gebraucht zu werden
alle ängste bringen wir zu dir gott
die wir kennen und die die hinter den bekannten lauern
herr erbarme dich“
2

Gott so anreden können – das meint beten. Gedichte können Gebete sein, Gebete sind Gedichte, in der Hoffnung, gehört zu werden.

1 D. Sölle, Gegenwind, Hamburg 1995, S. 289
2 dies., in: zivil und ungehorsam. Gedichte, Berlin 1990, S. 69 und „Das Brot der Ermutigung. Gedichte. Gesammelte Werke, Bd. 8, hg. von U. Baltz-Otto/F. Steffensky, Stuttgart 2008, S. 116 https://www.kirche-im-swr.de/?m=7142
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