SWR2 Wort zum Tag

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Bilanzen gibt es in jedem Menschenleben. Geburtstage sind mit einem bilanzierenden Rückblick verbunden, der Jahreswechsel. Eine schwere Erkrankung. Eine zerbrochene Partnerschaft. Mehr als alles aber die Erfahrung des Todes. Spätestens wenn ich auf ein Leben zurückblicke, komme ich zu der Einsicht: Das Lebens ist etwas Unfertiges. Bleibt ein Fragment. Etwas niemals wirklich Abgeschlossenes.

In einem Gedicht heißt es:

"Verehrliches Auditorium,
Das Leben - das Leben - beachten Sie –
Ist nichts als ein Provisorium."

Von Joachim Ringelnatz stammen diese Zeilen. Heute vor 75 Jahren ist er in Berlin gestorben. Fragment blieb nicht nur sein letzter Roman. Eigentlich sein Leben überhaupt. Häufig verkannt, von den Nazis verfemt. Und doch eingebettet in ein Netz von Menschen, die über den Tag und das Dritte Reich hinaus hofften und dachten. Schauspieler, Schriftsteller, Bildende Künstler. Ein Künstler war Joachim Ringelnatz selber. Schreibend. Malend. Durch sein Leben überhaupt. Mitten in allen Hindernissen, die sich ihm in den Weg stellten, erwies er sich als Lebenskünstler.
Sein Glück als Lebenskünstler zu versuchen, das ist das wirksamste Gegenmittel gegen allzu ernüchternde Bilanzen. Ob ich mich am Ende im Plus oder im Minus wieder finde, das ist eine Rechenaufgabe, die ich lieber Gott überlasse. Mein Leben darf darum ruhig im Unvollendeten verbleiben.
Vielleicht rührt aus solcher Offenheit gerade seine Schönheit her. Ich bin nicht fertig. Muss nicht irgendwelchen Zielvorgaben anderer entsprechen. Ich bin vielmehr eingeladen, mein Leben selber zu gestalten. In Versuch und Irrtum. In Scheitern und Gelingen. Die Vollendung meines Lebens aber ist dann ohnedies nicht mehr meine Aufgabe. Gott sieht das, was den Wert meines Lebens ausmacht, mit Augen der Liebe. Wie wir einen Menschen mit den Augen der Liebe sehen können. Und uns von seinen Unfertigkeiten von unserer Liebe nicht abbringen lassen.
Ein Provisorium nennt Ringelnatz unser Leben. Da steckt das lateinische Wort providere drin. Das heißt vorsehen. Gut, wenn wir darauf vertrauen, dass sich die Brüche, die Ecken und Kanten meines Lebens zu einem Ganzen zusammenschauen lassen. In der Zukunft womöglich erst. In Gottes Zukunft mit mir. Deshalb kann ich heute ruhig an mein Tagwerk gehen. Und meine Provisorien abarbeiten. Ich baue schließlich am Kunstwerk meines Lebens. Auch wenn es nie fertig wird.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=7139
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