SWR2 Wort zum Tag

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„Deutscher Herbst“ 1977

Die Geschichte eines Landes schreibt sich ein in die eigene Lebensgeschichte. Oft auf sehr individuelle Weise. Aber jeder ist von der Geschichte seines Landes geprägt.
In mein Leben hat sich das deutsche Jahr 1977 besonders eingeschrieben. Auch in mein
Leben als Christ.
1977, im so genannten „deutschen Herbst“: Das terroristische Morden hatte mit der Ermordung von Arbeitgeberpräsident Schleyer seinen Höhepunkt erreicht. Angst und Gewalt hielten das Land im Griff. Die meisten Menschen sahen in den Terroristen keine Menschen mehr, sondern „Unmenschen“. Auch Christen haben aus ihrer tiefen Abscheu gegen sie keinen Hehl gemacht.
Damals hat mich diese Abscheu erschreckt, zutiefst verwirrt und desorientiert. Und mich nicht allein. Ich war 22, Student in Tübingen. Vielen Mitstudenten ging es ähnlich wie mir. Manchmal haben wir uns der Gesellschaft und der Kirche gegenüber, fremd in ihr gefühlt.
Verstehen Sie mich bitte richtig. Die meisten von uns fanden die Morde auch falsch und schlimm. Aber zugleich wollten wir die Täter verstehen, vielleicht auch sie nicht als „schuldig“ sehen. Einige waren etwa so alt wie wir. Wir wollten in ihnen auch noch Gutes sehen.
Sahen sie als verirrt. Aber träumten sie nicht eigentlich auch von einer besseren Welt, wie wir?
Gut, dass es damals Menschen gegeben hat, die vielen von uns geholfen haben, uns neu zu orientieren.
Sie waren nicht aus der Generation der Väter. Sondern der Großväter: Kurt Scharf z.B. Helmut Gollwitzer oder Heinrich Albertz. Sie haben uns gezeigt, dass es geht und wie es geht: Man kann sich als Christ ganz in diese Gesellschaft einbringen und ihr gegenüber trotzdem kritisch bleiben. Sagen, was sich ändern muss, im Sinne Jesu. Aber eben und auf jeden Fall: ohne Gewalt. Wie Jesus.
Uns desorientierten Jungen haben sie damals klar gemacht: Mord ist Mord. Und die Täter sind nicht zu entschuldigen. Diese Klarheit haben sie uns zugemutet. Und trotzdem haben sie die Täter auch immer als Menschen behandelt. Kurt Scharf z.B. hat Ulrike Meinhof im Gefängnis besucht. Helmut Gollwitzer hat sie beerdigt. Und an ihrem Grab der ganzen Gesellschaft ins Gewissen geredet: „Ein Tod verpflichtet zur Versöhnung.“ Und Heinrich Albertz hat sich zum Austausch für eine Geisel zur Verfügung gestellt, um einen entführten Politiker auszulösen.
Helmut Gollwitzer, Heinrich Albertz und Kurt Scharf. Sie vertrauten darauf, dass nur durch Barmherzigkeit diese Welt besser werden kann. So wie Jesus es gezeigt hat. Mir und meinen Freunden hat das geholfen, zurück in diese Gesellschaft und zum christlichen Glauben. Und
ich finde es heute genauso wichtig wie damals. https://www.kirche-im-swr.de/?m=7086
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