SWR2 Wort zum Tag

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„Was bedeutet für mich der Fall der Mauer und die „Wiedervereinigung“ der Kirchen“



In meiner eigenen Biographie kommt 1989 direkt neben dem Kriegsende 1945 zu stehen, dem frühesten Geschehen, mit dem sich für mich eigene Erinnerungen verbinden. 1989 ist für mich die größte historische Wende seit 1945. Kaum jemand rechnete mit dem, was im Herbst 1989 geschah und im Mauerfall am 9. November gipfelte.

Der 9. November war bereits zuvor ein deutsches Datum. Besonders die Erinnerung an den 9. November 1938, an dem in Deutschland Synagogen in Brand gesetzt wurden, hat meine theologische Arbeit schon lange vor 1989 geprägt. Als Professor musste ich jungen Theologinnen und Theologen die schuldhafte Verstrickung unserer Kirche und ihr Versagen gegenüber Jüdinnen und Juden erklären. „Die Kirche vor der ‚Judenfrage’“ – so nannte ich 1979 eine Vorlesung zu diesem Thema. Aber 1989?

Ein Berührungspunkt mit dem, was im Herbst kommen sollte, war der Kirchentag in Berlin im Sommer 1989. Er war durch eine weit stärkere Beteiligung aus der DDR geprägt. Man konnte die Empörung über die Manipulation der Kommunalwahlen im Mai 1989 wahrnehmen, die eine neue Stufe in der Entwicklung der Opposition darstellte.

Schon zuvor hatte eine wachsende Zahl von Bürgerrechtsgruppen die Kirchen als Ort für ihren Protest aufgesucht. Denn sie boten in der DDR den einzigen öffentlichen Raum, der nicht staatlich kontrolliert war. Deshalb kam unserer Kirche eine Schutzfunktion zu. In wachsendem Maß wurden Friedensgebete zum Ausgangspunkt dafür, dass der Geist der Gewaltfreiheit auf die Straßen getragen wurde. Dadurch wuchs unsere Kirche in die Mitverantwortung für einen Wandel hinein, der dem SED-Regime ein Ende bereitete. An den Runden Tischen versammelten sich nach 1989 Vertreter einer entstehenden Zivilgesellschaft, oft unter der Leitung von Kirchenvertretern, die in ihren Synoden Demokratie praktisch gelernt hatten.

Heute lässt sich dankbar feststellen, dass es einen bedeutenden kirchlichen Beitrag zur Veränderung, zum Aufbruch, zum Weg zur deutschen Einheit gegeben hat, der uns auch weiterhin verpflichtet.

Für mich selbst war der 9. November 1989 ein Ausnahmetag. Ich hatte den Herbst denkbar weit vom Ort des Geschehens zugebracht, nämlich in den USA. Anfang November war ich zu Veranstaltungen nach Deutschland eingeladen. Den 9. November verbrachte ich mit meiner Familie in Heidelberg, Fernsehen war an diesem Abend tabu. So erfuhr ich erst am nächsten Morgen vom Fall der Mauer, unmittelbar danach fuhr ich nach Berlin. Nach meiner Vortragsveranstaltung machte ich mich sofort auf den Weg zum Brandenburger Tor und verbrachte die ganze Nacht im Gespräch.

Meine Gedanken gingen zurück zum 13. August 1961. Am Vorabend hatte ich Willy Brandt auf einer Wahlkampfkundgebung in Freiburg gehört. In der Nacht musste er nach Berlin zurückkehren; denn die Mauer fraß sich durch die Stadt. Nun, 28 Jahre später, war sie offen. Ein Wunder.

Was sich daraus für meine persönliche Lebensgeschichte ergeben würde, ahnte ich 1989 noch nicht. Doch ich wusste: Es hatte sich etwas grundsätzlich verändert. Ein Wunder. https://www.kirche-im-swr.de/?m=7074
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