SWR2 Wort zum Tag

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Aufbruchsstimmung im Religionsunterricht

60 Jahre BRD! Ich verbinde damit wichtige Erinnerungen an meine Zeit als Religionslehrerin. Mein Theologiestudium hatte mir einen neuen Zugang zur Tradition der Bibelauslegung eröffnet. Dieser Einschnitt lässt sich am ehesten mit den Stichworten „Entmythologisierung“ der Bibel und „historisch-kritische Methode“ der Überlieferung verbinden. Ich habe in diesem Zusammenhang viel von der Theologin Dorothee Sölle gelernt, aus den Politischen Nachtgebeten, aus der Theologie der Befreiung, aus ihrem Dialog zwischen Religion und Literatur. Sie sagt: „Es ist wichtig, die politischen und sozialen Verhältnisse zu begreifen, unter denen die Menschen der Bibel ihren Glauben realisiert haben. Wenn wir das nicht verstehen, dann verstehen wir die Bibel nicht.“ Der neue Zugang zur Tradition religiöser Überlieferung hatte erhebliche Konsequenzen für die Arbeit im Pfarramt und in der Schule.
So gab es Ende 1960 bis in die 80er Jahre heftige Diskussionen darüber, wie ein Religionsunterricht im Bildungsprozess der Schule aussehen müsse, der einerseits Schülern gerecht wird und andererseits die kulturelle, religiöse und politische Situation unserer Zeit berücksichtigt. Neue Lehrpläne wurden erarbeitet. Über die Inhalte entschieden Staat und Kirche gleichberechtigt.
In der Lehrplankommission, in der ich mitarbeitete, hieß das oft, zwischen den Stühlen zu sitzen, zwischen Reformern und Bewahrern. Der einen oder anderen Seite kam bei bestimmten Themen die Tradition zu kurz oder es wurde die Gesellschaftsbezogenheit von Religion nicht deutlich genug herausgestellt. Diese Spannungen boten aber auch die Chance, Themenbereiche so aufzubereiten, dass genügend Freiräume für Lehrende und Lernende blieben.
Die Vermittlung neu verstandener Exegese, das heißt Auslegung, war für die Schüler bahnbrechend. Sie lernten biblische Texte in ihrer Entstehungsgeschichte, in ihrer symbolischen und mythologischen Sprache zu verstehen. Im Zusammenhang mit Themen aus der Philosophie, der Literatur, der Kunst, konnten biblische Texte völlig anders erschlossen werden. Der Versuch, die Bibel weiterzuerzählen mit Inhalten aus unserer Welt- und Lebenserfahrung, ermöglichte es, christliche Tradition nicht einfach zu übernehmen, sondern sie in einem wechselseitigen Dialog kritisch anzueignen. Dieser Dialog mit Geschichten der Hoffnung, des Trostes, der Gerechtigkeit, der Ermutigung auch im Leiden gibt Schülern Orientierung in ihrer Suche nach Identität und Sinn.
Religionsunterricht so zu verstehen, hieß damals und heißt es auch heute, deutlich zu machen, was an der Sache des Glaubens in den Sachen dieser Welt ist. https://www.kirche-im-swr.de/?m=7073
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