SWR2 Wort zum Tag

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Der Zauber des Anfangs

Über dem Jahr 1949, dem Gründungsjahr der Bundesrepublik Deutschland, lag der Zauber des Anfangs. Es ist 60 Jahre her, und ich war 15 Jahre alt. Als Kind hatte ich in einer mittel-badischen Kleinstadt noch die Zeit des Naziregimes, den Krieg und die ersten Nachkriegsjah-re erlebt. Ich erinnere mich an ein Jahr Hitlerjugend, in dem nicht nur Fußball gespielt, son-dern auch hasserfüllte Lieder gesungen wurden, an Sondermeldungen und an das Leid vieler Familien, wenn der Vater oder der Sohn gefallen war, an das Elend der Nachkriegszeit. Das Ende des Krieges habe ich überwiegend als Befreiung empfunden. Die Nächte im Luftschutz-keller, die Ängste vor den Bedrohungen des Krieges waren vorbei. Und allmählich regten sich erste Hoffnungen auf eine bessere Zeit. Zwar waren noch überall Spuren der Zerstörung zu sehen. Und der Hunger war schwer zu ertragen. Aber bald machte ich immer mehr befreiende Erfahrungen

Es waren z.B. Erfahrungen in der christlichen Jugendarbeit. In einer Jungschar wurde auf un-aufdringliche Art über das Christsein gesprochen. In einem Schülerbibelkreis konnte ich meine Fragen zum Glauben und zum Leben loswerden. Ich spürte, dass eine neue Zeit begon-nen hatte, in der all dies in Freiheit geschehen konnte. – Ähnliche Empfindungen hatte ich in der Schule. Unterstützt von einigen Lehrern hatten wir eine Schülermitverwaltung – so hieß es damals – durchgesetzt. Wir bekamen als Schüler Mitspracherechte. So hatte ich als Schul-sprecher die Möglichkeit, im Lehrerkollegium an Beratungen über Schul- und Schülerprob-leme teilzunehmen. – Der Aufbruch in die europäische Gemeinschaft hat mich begeistert. Bald nach dem Krieg hatte es kirchliche Kontakte zu den europäischen Nachbarn gegeben. In den 50er Jahren sind dann auch erste Schritte auf eine europäische Gemeinschaft hin gelun-gen. Was ich damals mitbekommen und verstanden habe, hat mich fasziniert. - Es waren An-fänge, die ich mit der Gründung unseres demokratischen Rechtsstaates zusammen gesehen habe.

Der Zauber dieser Anfänge ist längst vergangen. Die Freiheit des Glaubens, die Möglichkeit der Mitverantwortung, europäisches Bewusstsein sind selbstverständlich geworden. Zugleich ist der Blick auf den Zustand der Kirche, auf die Probleme unseres Landes, auf den mühsa-men Weg zu einem vereinten Europa ernüchternd. Aber die Erinnerung an den Zauber des Anfangs kann helfen, für das, was selbstverständlich geworden ist, dankbar zu bleiben, auf die Bewahrung von Recht und Freiheit zu achten und in der Hoffnung auf eine gute Zukunft die eigenen Möglichkeiten der Mitverantwortung in Kirche und Gesellschaft zu suchen. https://www.kirche-im-swr.de/?m=7072
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