SWR3 Gedanken

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Ich muss wohl ziemlich entgeistert geschaut haben, als mir eine Kollegin bei der Suche nach einem Termin einmal lapidar erklärte, innerhalb der nächsten fünf Monate habe sie leider keinen Termin mehr frei. Ich weiß bis heute nicht, wie sie das schaffte, aber ein Verdacht kam mir ziemlich schnell: Wer restlos ausgebucht ist, der muss einfach ungeheuer gefragt und wichtig sein. Wer wünscht sich das nicht? Keine Zeit zu haben gilt in einer Leistungsgesellschaft ja geradezu als höchstes Adelsprädikat. Wer Zeit scheinbar sinnlos verplempert macht sich verdächtig. Abhängen, chillen, sich treiben lassen – eine Todsünde. Darum lernen schon Schüler in Zeitmanagementseminaren, wie sie ihre kostbare Zeit „verdichten“ können. Wie man also mit systematischer Planung noch mehr Termine im selben Zeitraum unterbringen kann.
Keine Frage, es gibt viele Menschen, denen ihr Beruf alles abverlangt, die jeden Tag oft 10 Stunden und mehr von Termin zu Termin eilen. Menschen, für die optimale Zeitplanung sogar ein Gewinn an Lebensqualität ist. Doch nicht wenige von denen, die ich kenne, leiden auch darunter. Wer wesentlich von seinen Gedanken, Ideen oder guten Einfällen lebt, der kann nun mal nicht im Minutentakt produzieren. Ein guter Vortrag, eine ansprechende Predigt schreibt sich nicht mal eben zwischen zwei Terminen. Und wer Kranke oder Alte pflegt und betreut, verflucht nicht selten Menschlichkeit im verordneten Minutentakt. Manchmal wäre weniger einfach mehr. Weniger Zeitverdichtung und mehr Zeit – zum gründlichen Nachdenken und zum menschlichen Begegnen. Qualität bemisst sich eben nicht unbedingt in geleisteter Menge pro Zeit. Seelsorge geschieht nämlich nicht nur in der Kirche, sondern überall dort, wo Menschen es schaffen, die Seele eines Anderen zu berühren. Im Minutentakt aber ist das schwierig.


https://www.kirche-im-swr.de/?m=7005
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