SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag


Wieder einmal wertvolle Zeit verloren! Der Zug bleibt auf offener Strecke stehen. Eine vorübergehende Gleissperrung, erläutert die Stimme aus dem Lautsprecher. Den Anschlusszug im nächsten Bahnhof werde ich mit Sicherheit verpassen. Wieder einmal fließen so Stunden meines Lebens auf einer Bahnfahrt einfach davon.

Die Unterbrechung der Fahrt hat eine überraschende Wirkung. Ich komme mit anderen, mir zuvor fremden Fahrgästen ins Gespräch. Zunächst über mögliche Varianten, die Fahrt fortzusetzen. Dann aber wechselt das Gespräch ins Persönliche. Eine Sozialarbeiterin erzählt von ihrer Arbeit. Ein anderer Mitfahrer berichtet von seiner eigenen Suchterkrankung. Ein dritter erzählt, er habe gerade ein Fortbildungsseminar gehalten. Er strahlt, als er von seinen Erfahrungen berichtet. Er liebt sein Handwerk, das ist zu spüren.

Einer Frau fällt meine theologische Lektüre auf. Und plötzlich erhält unser Gespräch noch eine weitere Wendung. Hin zu einem Gespräch über Gott und die Welt. Verloren ist die Zeit, die wir auf der Strecke festsitzen, längst nicht mehr. Mit einem halben Dutzend spannender Lebensfragmente setze ich meine Fahrt fort. Eine kleine Unterbrechung auf einer Zugfahrt. Und Mensch fangen an, sich voneinander erzählen. Und sie sprechen über Themen, die sie manchmal sogar im eigenen Freundeskreis voreinander verbergen.

Solche Erfahrungen finde ich beglückend. Und ich bin froh, dass sie kein Einzelfall sind. Menschen erleben Momente der Nähe, anstatt den gewohnten Abstand voneinander einzuhalten. Warum geht das nicht öfter? Und ohne, dass erst ein Zug stehen bleiben muss? Mutter Theresa wird der Satz zugeschrieben: „Es wäre viel mehr Wärme in der Welt, wenn wir uns so herzlich gäben, wie wir sind.“ Darauf also käme es an: Andere mit überraschenden Gesten der Nähe - nicht aus der Bahn – sondern ins Leben zu werfen. Und unserer Lebenszeit dadurch einen Sinn zu geben.

Nein, ich wünsche mir keine weiteren Fahrtunterbrechungen, wenn ich mit der Bahn unterwegs bin. Aber wann eine Stunde Lebenszeit verloren ist, das steht immer noch auf einem anderen Blatt. Und den möglichen Gewinn einer unfreiwilligen Unterbrechung erkenne ich womöglich erst später.

„Meine Zeit steht in deinen Händen.“ Das bekennt der Beter eines Psalms. Schon vor über 2000 Jahren. Deshalb gebe ich meine Zeit auch nicht gleich verloren, wenn es anders kommt als geplant. Und ich bin schon gespannt, welche Menschen mir beim nächsten Mal begegnen, wenn der Zug wieder einmal stehen bleibt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6910
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