SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Jahrelang bin ich über die Grenze gefahren. Je näher Helmstedt kam und der Grenzübergang, desto mehr stieg die Spannung. Natürlich hatte ich unerlaubte Sachen mit für die Freunde und Freundinnen drüben: Theologische Bücher, kritische Zeitschriften.. Beklemmend war das Wissen,, der Willkür anderer ausgesetzt zu sein und die Angst, erwischt und bestraft zu werden. Und dann fahre ich eines Tages wieder dieselbe Strecke. Die Grenzhäuschen stehen noch, die Wachtürme, die künstlichen Blockaden – und doch kann ich durchfahren, als wäre nie etwas gewesen. Der ganze Spuk ist vorbei. Noch sind die ganzen Gefühle von Unsicherheit, Angst und Ohnmacht präsent – aber sie haben keinen Grund mehr. Ich spüre, was Freiheit ist.
Niemand hat den Fall der Mauer vorausgesehen, kaum einer hat ernsthaft daran geglaubt oder damit gerechnet. Und dann ist es doch geschehen – durch die Widerstandskraft von Menschen, durch wirtschaftliche Zwänge, durch politische Veränderungen. Gewiss auch durch Vorstellungen vom gerechteren Leben, durch Träume und Visionen, wie es sein sollte. Und nicht wenige sagten damals: „Das ist ein Wunder!“
Mit Wundern kennt sich der Glaube aus. Die Bibel ist voller Wundergeschichten: Da werden Kranke geheilt, Gefangene befreit, sogar Tote auferweckt. Aber kaum einer heutzutage, der einigermaßen aufgeklärt ist, kann diese biblischen Geschichten wörtlich für wahr halten.. Zu Recht. Der Gott, an den Christen glauben, ist kein Zauberer. Aber der Glaube ist verrückt nach Möglichkeit. Er setzt Hoffnung frei für das Unmögliche. Das nennt die Bibel dann Wunder, und davon ist das Leben voll. Da wagen Menschen das Unwahrscheinlichste – wie den Ausbruch aus Ägypten damals, wie jüngst die deutsche Revolution. Dass sie trotz aller Bedrängnis das Licht der Hoffnung hochhielten und betend auf eine gerechtere Gesellschaft setzten – das ist das eigentliche Wunder. Da bekommt die sogenannte Realität Risse, die bestehenden Verhältnisse kommen ins Wackeln. Längst bevor die Mauer in der äußeren Realität fiel, war die Entscheidung innerlich gefallen.
Zwanzig Jahre danach sieht die Welt schon wieder ziemlich anders aus. Zukunftsangst macht sich breit. Die globalisierten Verhältnisse scheinen kaum veränderbar, und die Finanzwelt ist böse aus den Fugen geraten. Wunder wie der Mauerfall sind aber immer noch möglich; stets fangen sie im Kleinen an, sie fordern Durchhaltevermögen. Dringend wie eh und je sind Menschen gefragt, die Visionen haben und die nötige Geduld zu ihrer Realisierung.. Sie mischen sich ein, sie geben die Hoffnung nicht auf, sie suchen und schaffen Alternativen. Was heutzutage in Gesamtdeutschland nötig ist, wäre nicht möglich ohne die Leistung der vielen damals in Mitteldeutschland. Ihr Glaube hat viel verändert. Es ist wirklich Anlass, den Tag der Deutschen Einheit zu feiern - dankbar für das, was wunderbar gelungen ist, und mit Tatkraft, anzupacken, was zu verbessern und zu verändern ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=6853
weiterlesen...