Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Beten kann man auf verschiedene Weise. So wurde der frühere Generalobere des Jesuitenordens Pater Kolvenbach einmal gefragt: „Pater General, wie beten Sie?“
Da antwortete Kolvenbach: „Ich nehme ein Christusbild und schaue es mir an.“
Kunst und Glaube gehen zusammen. Schauen und Beten werden eins. Das funktioniert.
Vor kurzem habe ich es wieder erlebt. In Innichen, einer Kleinstadt in Südtirol. Dort steht eine uralte Stiftskirche. In ihr hängt - hoch über dem Altar - eine eindrucksvolle Kreuzigungsgruppe aus der Zeit um 1250. Drei hölzerne Figuren, lebensgroß, alle noch mit der ursprünglichen Bemalung. Der Gekreuzigte in der Mitte, flankiert von Maria und dem Lieblingsjünger Johannes. Von diesem Christus geht eine ungeheuere Faszination aus. Ganz aufrecht steht er da, mit waagrecht ausgestreckten Armen. Obwohl ans Kreuz genagelt, zeigt er keine Spur von Leid. Er hat die großen Augen weit geöffnet und schaut in die Ferne. Eine Darstellung voller Würde und Zuversicht. Dieser Christus hat schon am Kreuz den Tod überwunden. Um das Majestätische noch zu unterstreichen, trägt der Gekreuzigte keine Dornenkrone, sondern die Krone eines Herrschers. Maria und Johannes stehen gefasst dabei, die Trauer weicht der Gewissheit, dass ihr Jesus über den Tod triumphiert.
Das Kunstwerk berührt den Betrachter. Man wird hineingenommen in die Ruhe und Souveränität dieses Christus. Die Botschaft, die der unbekannte Künstler vor fast 800 Jahren verkünden wollte, erreicht mich. Ich fühle mich getröstet und ermutigt. Ich merke: Sehen und Beten werden eins.
Wenn ich mir jetzt, Wochen danach, die Bilder des Christus von Innichen wieder anschaue, spüre ich noch immer etwas von der Kraft, die mir diese Begegnung geschenkt hat. Und dafür bin ich dankbar.


https://www.kirche-im-swr.de/?m=6779
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