Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

„Guten Morgen!“ Ich drehe mich um nach dem Mann, der auf dem Fahrrad an mir vorbei fährt. Und ich erwidere seinen Gruß: „Guten Morgen!“ Ich kenne ihn nicht, er kennt mich ganz bestimmt auch nicht. Aber dennoch war es ihm wichtig, mich zu grüßen, einfach so, im Vorbeifahren. Darüber habe ich mich gefreut. Auch beim weiteren Spaziergang durch den kleinen Schwarzwaldort grüßen mich die Leute, die vorbei kommen. Das scheint in dem Dorf, in dem ich im Urlaub war, noch so gepflegt zu werden. Und das tut mir gut.
In den Städten grüßen höchstens die Menschen einander, die sich kennen. Ansonsten läuft man mehr oder weniger achtlos aneinander vorbei. Je größer die Stadt, desto größer die Gefahr, dass der Einzelne in der Masse aufgeht oder in der Anonymität untergeht; oft wird man von den Anderen gar nicht mehr wahrgenommen. Bis dahin, dass jemand länger tot in der Wohnung liegt. Gerade stand wieder in der Zeitung, dass eine 84jährige in Salzburg in einem Mehrparteienhaus etwa 1 ½ Jahre tot zuhause lag. Es war niemandem aufgefallen, obwohl sich Prospekte und Werbebriefe vor der Wohnungstür stapelten. Ein Symptom dafür, wie sehr die Anonymität in unserer Gesellschaft gewachsen ist.
Da lobe ich mir die Orte, wo der Eine noch nach dem Anderen schaut. Genau dafür ist der Gruß ein Zeichen. „Guten Morgen!“ – darin steckt vielleicht mehr drin, als es beim direkten Hören scheint. Der Mann, der an mir vorbei gefahren ist, hat mich nicht übersehen, ich war ihm nicht egal. Er hat mich wahrgenommen, als einen Mitmenschen, den er jetzt beiläufig trifft, einfach so. Und er hat mir eine kleine Geste der Mitmenschlichkeit, des Miteinanders geschenkt: „Guten Morgen!“ Dieser Gruß ist noch dazu ein Wunsch: Er wünscht mir, dass ich einen guten Morgen erlebe, dass mein Tag gut wird, dass es mir gut geht. Und schon eine solche Geste kann mir gut tun, wenn ich sie bewusst erlebe. Durch den Gruß ist das zufällige Zusammentreffen von Unbekannten zu einer kleinen mitmenschlichen Begegnung geworden – der Gruß ist ein Funke Mitmenschlichkeit, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Dabei geht es nicht nur um den Gruß. Es geht um die Haltung, die dahinter steht. Die Haltung, die ein Zeichen setzt gegen Desinteresse und Gleichgültigkeit den Anderen gegenüber. Mir jedenfalls tun Menschen gut, die den Anderen gegenüber aufmerksam sind, die ihnen achtsam begegnen; Menschen, die einen Sinn haben für kleine Gesten der Mitmenschlichkeit. Durch sie wächst das Reich Gottes, der Lebensraum, in dem Verständnis und Gemeinschaft Kreise ziehen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6683
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