Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Wie lange brauche ich noch bis zum Ziel? Diese Frage habe ich mir gestellt, als ich vor kurzen durch ein Labyrinth gegangen bin. Es war eine interessante Erfahrung.
Auf der Insel Werd bei Stein am Rhein haben die Franziskanermönche bei ihrem Kloster ein Labyrinth gebaut. In der Mitte steht ein kleiner Brunnen. Zu diesem Ziel führt der Weg in vielen Windungen. Es gibt keinen direkten, schnellen Zugang zur Mitte. Wer dorthin gelangen will, muss sich auf den verschlungenen Pfad einlassen.
Das habe ich getan. Zuerst ging es ein Stück auf die Mitte zu, ich hatte das Ziel vor Augen. Dann die erste Kehre, es geht in die Gegenrichtung. Der Weg biegt rechtwinklig ab, er führt ein langes Stück auf der Kreislinie. Die nächste 180-Grad-Kurve zwingt mich wieder in die entgegengesetzte Richtung. Und so geht es weiter. Nicht immer geradeaus und schon gar nicht ruck-zuck. Ich spürte, dass ich dennoch ruhiger wurde – in dem Maß, wie ich mich innerlich auf den Weg einließ und wie ich ihn bewusst gegangen bin.
Das Labyrinth ist ein treffendes Symbol für unseren Lebensweg. Es hat spirituelle Bedeutung. In einem Exerzitienhaus hängt in jedem Gästezimmer eine Abbildung des bekannten Labyrinths der Kathedrale von Chartres, und daneben steht folgender Text:

„Durch die Tage
den Weg gehen
oft vor Wänden stehen
und nicht wissen
manchmal das Ziel
vor Augen
zum Greifen nahe
und dann weit
zurückgeworfen
wie an den Anfang
alles umsonst
dann plötzlich
- ganz wie von selbst -
die Mitte“


Das Labyrinth vermittelt eine Botschaft. Sie hat sich mir im Gehen erschlossen: „Geh weiter, dann kommst du an! Hab’ keine Angst vor einer Wendung, lass dich führen! Gönne dir die Zeit, die der Weg braucht – dann kann sich deine Ungeduld in innere Ruhe wandeln, dann wirst du auch aufnahmefähig für alles Schöne unterwegs. Du kannst darauf vertrauen, dass Du dem Ziel näher kommst, dass du nach und nach zur Mitte kommst, zu deiner Mitte, zur Mitte des Lebens, zu Gott als Quell des Lebens. Die Mitte, das Ziel wird sich dir zeigen.“
Immer ruhiger und voller Zuversicht bin ich dann beim Brunnen angekommen. Und die gleiche Gelassenheit hat sich dann auf meinen weiteren Weg durch den Tag übertragen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=6682
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