SWR2 Wort zum Tag

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Zu was bin ich nütze? Was wird von mir einmal übrig bleiben? Manchmal frage ich mich das. Auch für die Dichterin Hilde Domin, die vor ein paar Tagen 100 Jahre alt geworden wäre, ist das ein Thema. 1957 hat sie ein Gedicht geschrieben mit dem Titel „Wie wenig nütze ich bin“. Sie geht es realistisch an: ihr Finger in der Luft hinterlässt keinen Strich, ihre Fußspuren wäscht der Regen weg, ihr Gesicht wird von der Zeit verwischt, und auch die Bäume am Weg vergessen sie. Aber Lachen, Tränen, der Klang der Stimme bleiben vielleicht hier und da, und vielleicht auch die ohne Absicht entzündeten Lichter in den Herzen einiger Menschen. Vergängliches und Unvergängliches. Beides nimmt die Dichterin wahr – realistisch und demütig das Vergängliche und genauso realistisch und dabei fast ein bisschen verschmitzt selbstbewusst das Unvergängliche. Als Hilde Domin dies Gedicht schrieb, war sie 48, danach hat sie noch einmal genauso lange gelebt. In einem Film vor einigen Tagen habe ich sie gesehen und gehört wie sie das Gedicht gesprochen hat, als Greisin, weit über 90 Jahre alt. Es klang wie ein persönlicher Wunsch, ein hoffnungsvolles Abschiedswort, und es hat mich berührt und mir Mut gemacht.

Wie wenig nütze ich bin,
ich hebe den Finger und hinterlasse
nicht den kleinsten Strich
in der Luft.

Die Zeit verwischt mein Gesicht, sie hat schon begonnnen.
Hinter meinen Schritten im Staub
wäscht der Regen die Straße blank
wie eine Hausfrau.

Ich war hier .
Ich gehe vorüber
ohne Spur.
Die Ulmen am Weg winken mir zu wie ích komme,
grün blau goldener Gruß,
und vergessen mich,
eh ich vorbei bin.

Ich gehe vorüber –
aber ich lasse vielleicht
den kleinen Ton meiner Stimme,
mein Lachen und meine Tränen
und auch den Gruß der Bäume am Abend
auf einem Stückchen Papier.

Und im Vorbeigehn
ganz absichtslos,
zünde ich die ein oder andere Laterne an
in den Herzen am Wegrand.
(Nur eine Rose als Stütze. Fischer-Verlag 1978, S.23)
Die Dichterin Hilde Domin mit 48 und mit 96 Jahren


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