SWR2 Wort zum Tag

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Windgeschenke – so heißt eines der Gedichte von Hilde Domin. Letzte Woche wäre sie 100 Jahre alt geworden, fast 97 Jahre hat sie gelebt. Erst mit 42 begann sie zu schreiben. Sie hat sich regelrecht gerettet ins Wort. Schreiben ist „für mich wie atmen“, schreibt sie, „man stirbt, wenn man es lässt“. (Abel steh auf. Reclam 1977, S.7) Und was atmet sie? Erfahrungen eines Lebens als Tochter jüdischer Eltern, mit Studium –Jura, Volkswirtschaft, Soziologie, Philosophie - mit harter Arbeit, einer jahrzehntelangen intensiven Partnerschaft, mit Lebensstationen in Köln, Rom, England und 12 Jahren in der Dominikanischen Republik, dort beginnt sie nach dem Tod ihrer Mutter zu schreiben. Sie kehrt zurück nach Europa, nach Spanien und schließlich nach Heidelberg.
Realistisch blickt ihre Lyrik ins Dunkel und ins Licht. 1972 schreibt Hilde Domin: „meine Gedichte (sehen) mit aufgerissenen Augen, wie abgefressen alle Wiesen sind, wie leer die Äste, wie es überall hohl ist. Und vor Schrecken fliegen sie dann so weit und hoch, dass sie irgendwo doch noch ein – schon ganz durchsichtiges – Blau oder Grün erwischen. Wie wir es in Wahrheit doch alle immer wieder tun, denn sonst leben wir nicht.“ (Abel steh auf, S.11)

Ich möchte Ihnen heute morgen das Gedicht „Windgeschenke“ vorlesen. Es ist ein sommerliches Gedicht und Hilde Domin spricht darin vom Glück:

Windgeschenke

Die Luft ein Archipel von Duftinseln.
Schwaden von Lindenblüten
und sonnigem Heu,
süß vertraut,
stehen und warten auf mich
als umhüllten mich Tücher,
von lange her
aus sanftem Zuhaus
von der Mutter gewoben.

Ich bin wie im Traum
und kann den Windgeschenken kaum glauben.
Wolken von Zärtlichkeit
fangen mich ein,
und das Glück beißt seinen kleinen Zahn
in mein Herz.


(Nur eine Rose als Stütze. Fischer-Verlag 1978, S. 45)
Ein Gedicht von Hilde Domin aus dem Jahr 1953.


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