SWR2 Wort zum Tag

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Dichter vermögen in Worte und Bilder zu fassen, was sie ahnen. Mir wird das bei Hilde Domin besonders deutlich. Vor ein paar Tagen wäre sie 100 geworden. Gestorben ist sie 2006 in Heidelberg. Eines ihrer schönsten Gedichte trägt den Titel „Im Regen geschrieben“

Im Regen geschrieben
Wer wie die Biene wäre,
die die Sonne auch durch den Wolkenhimmel fühlt,
die den Weg zur Blüte findet
und nie die Richtung verliert,
dem lägen die Felder in ewigem Glanz,
wie kurz er auch lebte,
er würde selten
weinen.
(Nur eine Rose als Stütze. Fischer-Verlag 1978, S. 64)

Die Biene – ein Bild für die Kraft des Fühlens und des Ahnens, die anderes wahrnimmt, mehr wahrnimmt als das, was zu sehen ist. Die sich immer orientiert an der Sonne und der Blüte. Die weiß, wohin sie fliegen muß, die findet, was sie braucht. Beneidenswert sicher bewegt sie sich in der Welt. Wie wäre es, zu sein wie die Biene? Die Sonne zu fühlen durch die Wolken hindurch? Es wäre nicht mehr wichtig, wie lange oder wie kurz ich lebe. Ich würde selten weinen – dieser Satz gefällt mir besonders gut – viel besser als wenn dastünde: er würde niemals weinen. Das „selten“ legt die Latte nicht so hoch, macht den Satz offener, geschmeidiger, nicht immer ist Weinen ja schmerzvoll, Menschen weinen auch, weil sie sich freuen, weil sie bewegt sind. Weinen ist ein Stück Leben wie lachen und sprechen. Dann ist da noch diese herrliche Verheißung: wer wie die Biene wäre, dem lägen die Felder in ewigem Glanz. Das verlockt mich: alles sehen zu können im Licht, sogar im Glanz dieser unsichtbaren Sonne. Die Sonne ahnen, die Sonne fühlen, und nicht der Augenschein bestimmt, wie ich die Felder sehe, sondern eben diese Sonne.
Und noch etwas fasziniert mich in diesem Gedicht: Hilde Domin hält es für möglich, dass wir diese Sicherheit des Ahnens und Fühlens in uns tragen, dass wir tatsächlich wie die Biene die Sonne fühlen durch die Wolken und mit untrüglichem Sinn den Weg finden zur Blüte.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6521
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