SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„So lange man noch Neugierde in sich hat und staunen kann, ist das Alter egal.“ So die Dichterin Hilde Domin. 2006 ist sie gestorben, vor wenigen Tagen wäre sie 100 geworden. Eines meiner Lieblungsgedichte von ihr spricht von dieser lebendigen, geduldigen Neugier.
Es lautet:




Nicht müde werden,
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten


Müde werden ist eine Versuchung. Alles oder doch vieles kennen und durchschauen - das ist auch eine Versuchung.
Die alten Kirchenväter sprechen manchmal vom Mittagsdämon, der den Menschen um die Mittagszeit oder auch in der Mitte des Lebens befallen kann, und ihn träge macht. Dann tut er nicht mehr viel, und vor allem: Er erwartet nichts mehr. Wer nichts mehr erwartet, ist lebendig tot. Damit will ich nicht über Menschen urteilen, die immer wieder enttäuscht wurden und neue Schmerzen vermeiden wollen. Aber ich will eine Lanze brechen dafür, immer noch etwas offenzuhalten, nicht alles schon ganz genau zu wissen, nicht zu früh mit allem abzuschließen, eben neugierig zu bleiben, sich überraschen zu lassen.
Ich glaube immer mehr, daß es im Leben vor allem darum geht, den Horizont offenzuhalten. Vielleicht besteht ja auch christlicher Glaube nicht zuerst im Für - Wahr - Halten bestimmter Sätze, in überzeugten Bekenntnissen zu Gott und zu seinem Sohn Jesus Christus. Vielleicht heißt ja christlicher, biblischer Glaube: Immer und immer noch von Gott etwas erwarten. Und die Geduld nicht verlieren, zu warten, bis er sich zeigt. Ihm zutrauen, daß er sogar da ist in unserem vergänglichen menschlichen Leben, und daß er es vielleicht verwandeln kann in ewiges Leben, Friede, Glück.
Hilde Domin sagt nicht: Leg die Hände in den Schoß. Sie wählt überhaupt nicht die Befehlsform. Stattdessen: die Hand ausstrecken. Sie dem Wunder entgegenhalten. Leise, zaghaft, unsicher, zweifelnd, aber doch. Erwarten und mich so stellen oder setzen, dass mir, dass uns etwas zufliegen kann. Und hoffen, zumindest offen dafür bleiben, dass der Vogel kommt und sich auf meine Hand setzt.

Nicht müde werden,
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten


(Abel steh auf. Reclam 1977, S.36)
Worte der Dichterin Hilde Domin. https://www.kirche-im-swr.de/?m=6520
weiterlesen...