SWR2 Wort zum Tag

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„Tiere machen keine Fehler“ meint mein Sohn, während wir ein leeres Vogelnest betrachten, das eine Amsel in das Spalierobst vor unserem Wohnzimmerfenster gebaut hat. Wir bewundern die kunstvolle Gestaltung „Wenn man sich überlegt, dass so ein Vogel nur mit seinem Schnabel und seinen Füßchen bauen kann!“ Kleine Zweige sind sorgfältig ineinander gewunden, die Höhlung weich ausgepolstert. „Ich sag´s doch, Tiere machen keine Fehler. Sie sind perfekt.“ Mein Sohn überlegt weiter. „Wahrscheinlich machen sie keine Fehler, weil sie nicht über das nachdenken, was sie tun. Die Amsel baut einfach und denkt nicht darüber nach. Wir Menschen denken, deshalb machen wir Fehler. Manchmal wäre es schön, ein Tier zu sein.“ - „Auf der anderen Seite“ sage ich, „so als Tier ist der Horizont doch sehr begrenzt, selbst aus der Vogelperspektive. Nur weil wir Menschen uns trauen, Fehler zu machen, können wir auch unseren Horizont erweitern und - beispielsweise - neue Baustile entwickeln. Schau dich mal in Mainz um, da findest du alles vom Fachwerkhaus bis zum modernen Architektenbau. Diese Vielfalt gibt es nur, weil Menschen den Mut haben, auch einmal etwas Neues auszuprobieren. So eine Amsel baut immer das gleiche Nest. Mein Sohn runzelt die Stirn. „Das kann sie dafür aber wirklich gut. Meinst du, dass sie glücklich darüber ist?“ Ich weiß nicht, ob Amseln glücklich sein können. Vielleicht braucht es für die Empfindung von Glück über das, was mir gelingt auch die Erfahrung, dass mir etwas misslingen kann und ich dieses Misslingen reflektieren kann. Manche Philosophen meinen ja, dass Glück nur der empfinden kann, der nicht darüber nachdenkt. Ein Architekt wird aber doch sicher glücklich sein, wenn ihm ein Haus gelungen ist, dafür braucht es aber vorher viele misslungene Entwürfe. Ich schaue meinen Sohn an und bin glücklich, dass es ihn gibt, gerade so, wie er ist, mit allen Ecken und Kanten. Fehlerlos sein - das gelingt wohl nur Gott, und alle menschlichen Versuche, den perfekten Menschen zu züchten, endeten bezeichnenderweise in Diktatur und Terror. „Schön, dass Gott dich so geschaffen hat wie du bist, nämlich denkend und nicht perfekt. Mir wäre es unheimlich, wenn du ohne Fehler wärest. Ich bin gespannt darauf, welche Fehler dich in deinem Leben weiterbringen werden. Wie gut, dass du keine Amsel bist. Außerdem“ - ich betrachte das leere Nest und denke an Nachbars Kater „manchmal ist es tödlich, nicht über den eigenen Horizont blicken zu können.“
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