SWR2 Wort zum Tag

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In unserer Gesellschaft hat sich das Gebot religiöser Toleranz durchge-setzt: „Jeder darf nach seiner Fasson selig werden.“ Eine Provokation für das christliche Glaubensbekenntnis? Der Glaube an den einzigen Gott. Die Offenbarung in seinem Sohn Jesus Christus als letztgültige Offenbarung. Der Wahrheitsanspruch, durch den Glauben an ihn allein Erlösung zu er-langen – verträgt sich das mit religiöser Toleranz?
Man hat versucht, das Problem zu lösen, indem man Toleranz unterschied-lich deutete: Christen sollen tolerant sein, wenn es um die Person Anders-denkender und Andersglaubender geht. In der Sache freilich ist Wider-spruch gefordert, und zwar kompromisslos. Aber geht das? Lassen sich Person und Sache trennen wie Schale und Kern, wenn es um Glauben und Religion geht? Der Glaube umgreift doch die ganze Person, nimmt sie in allen ihren Teilen in Besitz. Es ist eben keine Sache, um die es hier geht. Keine Tatsache, die sich ohne Ansehen der Person zur Geltung bringt. Kein Sachverhalt, der sich mit mehr oder weniger stichhaltigen Argumenten vertreten lässt.
Ich glaube, dass Jesus noch einen anderen Weg zur religiösen Toleranz weist, wenn er uns in der Bergpredigt zur Feindesliebe mahnt. Wenn ich Jesu Gebot der Feindesliebe recht verstehe, geht es nicht darum, den Feind als Feind zu lieben. Eine solche Aufforderung wäre absurd. Erklärte Feindschaft und Liebe vertragen sich nicht miteinander. Daher soll – so Je-su Liebesgebot – die Liebe das Feindschaftsverhältnis beenden. Liebe ist wie Feindschaft ein Wort, das eine Beziehungsqualität zum Ausdruck bringt. Mit den Augen der Liebe betrachtet kann der einstige Feind nicht mehr Feind bleiben. Liebe schafft ein neues Sehen, eine veränderte Wahr-nehmung, in der die überkommenen Feindbilder verblassen. Feindschaft wird durch Liebe begraben – das ist die Aussage Jesu.
Was bedeutet das im Blick auf die Begegnung unterschiedlicher Glaubens-überzeugungen und religiöser Wahrheitsansprüche? In früheren Zeiten be-trachtete man das, was sich ausschließt unter dem Aspekt der Feindschaft. So wurden Christen, Juden und Muslime einander Feind. Sie waren sich fremd. Und weil man Fremdheit nicht zu bewältigen verstand, wurden aus Fremden eben Feinde.
Jesu Gebot der Feindesliebe fragt danach, wie aus Fremden Freunde wer-den können, oder anders: wie die Liebe Feindschaft zu überwinden ver-mag. Nämlich als Fremdenliebe, als beständige Herausforderung, mich vom Fremden berühren zu lassen, es mir nahe kommen zu lassen oder mich ihm anzunähern. Gerade auch dann, wenn es um unterschiedliche Glaubensbekenntnisse und Religionsangehörigkeiten geht.

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