SWR2 Wort zum Tag

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Toleranz ist keine christliche Tugend – oder vielleicht doch?
Ein Blick in die Geschichte des Christentums scheint zunächst das Gegen-teil zu belegen. Mit eiserner Hand wurde entschieden, was Rechtgläubig-keit heißt. Oft entschied das Schwert – im Namen Jesu: Menschen mit ab-weichenden Überzeugungen wurden als Ketzer und Hexen ausgeschlossen. Auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Andersgläubigen drohte Verfolgung und Tod. Heilige Kriege und Kreuzzüge wurden geführt gegen die so ge-nannten Ungläubigen. Ganze Kulturen in Schutt und Asche gelegt.
Mir liegt nichts daran, hier die Kriminalgeschichte des Christentums aus-zuwalzen. Aber bisweilen empfinde ich sie doch als schwere Last.
Heute leben wir in einer gründlich veränderten gesellschaftlichen Situation. Die Vielfalt regiert: Eine Vielfalt an Idealen und Lebenskonzepten. Eine Vielfalt an praktizierten Lebensformen. Eine Vielfalt von Werten und Glau-bensüberzeugungen. Und ich schätze diese Vielfalt.
Es scheint so zu sein, als habe sich im Lauf der Jahrhunderte am Ende das Ideal der Toleranz durchgesetzt. Zumindest bei uns – im so genannten A-bendland, in der westlichen Welt. Doch was meint Toleranz denn genau? Sie hat ja sehr unterschiedliche Gesichter: Da ist einerseits der Respekt vor dem Anderen, die Akzeptanz des Fremden. Andererseits kann Toleranz aber auch Trägheit meinen – Unterschiede nicht mehr wahrnehmen und mit ihnen nicht mehr bewusst Seite an Seite leben zu wollen. Toleranz als leidenschaftslose Gleichgültigkeit. Oft habe ich den Eindruck, es sei dieses Gesicht der Toleranz, das sich heute zeigt. Gerade so, als bloße Gleichgül-tigkeit, kann Toleranz im christlichen Sinne jedoch nicht verstanden wer-den.
Was bedeutet Toleranz im Sinne christlichen Glaubens? Jesus fordert dazu auf, das eigene Verhalten anderen gegenüber immer daran zu orientieren, wie man selbst von anderen behandelt werden will. Es ist jene berühmte goldene Regel aus der Bergpredigt: „Handelt stets gegenüber anderen Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt.“
Das gilt auch für die Begegnung unterschiedlicher Glaubensüberzeugun-gen. Wenn wir als Christen beanspruchen, in unserem Glauben ernst ge-nommen zu werden, dann dürfen wir anderen den gleichen Respekt nicht versagen. Und umgekehrt: Wenn wir andere in ihrer Glaubensüberzeugung hinterfragen, dann müssen wir auch bereit dazu sein, selbst auf kritische Anfragen Rede und Antwort zu stehen. Bereitschaft zur Auseinanderset-zung und Respekt vor den Glaubensüberzeugungen anderer – das sind für mich die beiden Wagschalen christlicher Toleranz.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=646
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