SWR2 Wort zum Tag

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„Wer über Religion nicht nachdenkt, glaubt alles.“ Ein Satz wie ein Plakat. Entdeckt habe ich ihn auf einem Transparent an einer viel befahrenen Straße. „Wer über Religion nicht nachdenkt, glaubt alles.“ Merkwürdig und ungewöhnlich genug – hier gehören Religion und Nach-Denken zusammen. Dabei galten jahrzehntelang bei uns Religion und religiöses Bewusstsein als naiv und vor aufgeklärt - als etwas, was man mit Nachdenken überwindet und hinter sich lässt. „Wer über Religion nicht nachdenkt, glaubt alles.“ Dieser Satz unterstellt: Wer über Religion nicht nachdenkt, wer da seinen Verstand ausblendet, der ist naiv, glaubt alles, lässt sich ein X für ein U vormachen.
Manfred Rommel - der ehemalige Oberbürgermeister von Stuttgart, erzählt einen Witz, der diese Ahnungslosigkeit aufspießt - unter der Überschrift „Bibelfest“: „Kaiserzeit. Reitunterricht bei der Kavallerie. Der Unteroffizier sagt zu einem Rekruten: »Sie sitzen auf dem Gaul wie weiland Iphigenie auf Tauris!« Der Rittmeister hört das und meint: »Unteroffizier, es ist ja schön, dass sie sich in der Bibel so gut auskennen, aber Jottes Wort jehört nun mal nicht auf die Reitbahn.«“* Was diese beiden preußischen Militärs ihre Untergebenen wissen lassen, ist wirklich alles andere als bibelfest. Doch was vor hundert Jahren noch als witzige Bildungslücke in Sachen Religion angesehen werden kann, ist heute überholt. Religion kehrt zurück - auch in den öffentlichen, politischen Bereich. Die im Witz vorausgesetzte Trennung - Religion gehört nicht auf die Reitbahn - Religion ist Privatsache – die ist überholt. Religion gewinnt wieder Raum - auch in unserer hoch industrialisierten westlichen Zivilisation - im Verständnis von Geburt und Sterben, von Essen und Gesundheit - im Alltag. Religion meldet sich massiv zurück - vielfältig und manchmal auch sehr bedrohlich. „Wer da über Religion nicht nachdenkt, glaubt alles.“ Im 21. Jahrhundert, das verschiedentlich auch schon als das Jahrhundert der Religion apostrophiert wurde, hat dieser Satz auch eine auffordernde Seite.
Es geht dabei um mehr als ein Bescheidwissen über Religionen, es geht um ein wachsames Unterscheiden: Welche Religionsgemeinschaft achtet die Demokratie und welche missachtet sie? Welche wertschätzt die Würde der Anderen, die von Männern und Frauen gleichermaßen - und welche lehrt Unterordnung und Abwertung? Welche Religion achtet Menschen verschiedener Herkunft – und welche befördert Trennung und Ablehnung? Religion hat viele Gesichter hat – auch gar nicht „schöne“. Da wird das genaue Hinschauen dringend. Denn: „Wer über Religion nicht nachdenkt, glaubt alles.“

*Manfred Rommels gesammelte Witze, Stuttgart 1997, S.124https://www.kirche-im-swr.de/?m=631
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